Tricks
älteren Lehrer in der Schule, wie wenig ihnen an dem liegt, was sie unterrichten. Juanita zum Beispiel, die sich Spanisch ausgesucht hat, weil es zu ihrem Vornamen passt (sie ist irischer Abstammung), und weil sie es gut sprechen, auf ihren Reisen benutzen möchte. Man kann nicht sagen, dass Spanisch ihr Schatz ist.
Wenige Menschen, sehr wenige, haben einen Schatz, und wenn man einen hat, muss man daran festhalten. Man darf sich nicht ausrauben lassen und darf ihn sich nicht wegnehmen lassen.
Der Tia Maria hat zusammen mit dem Kaffee eine bestimmte Wirkung gehabt, er macht sie unbekümmert und selbstbewusst. Er ermächtigt sie zu dem Gedanken, dass Eric eigentlich gar nicht so wichtig ist. Er ist jemand, mit dem sie schäkern kann. Schäkern ist das Wort. Wie Aphrodite es mit Anchises tat. Und dann wird sie eines Morgens auf und davon sein.
Sie steht auf und findet ins Badezimmer, dann kommt sie zurück, legt sich aufs Sofa und deckt sich mit der Patchworkdecke zu – zu schläfrig, um Corkys Haare oder Corkys Geruch daran zu bemerken.
Als sie aufwacht, ist es heller Morgen, obwohl die Küchenuhr erst zwanzig nach sechs zeigt.
Sie hat Kopfschmerzen. Im Badezimmer steht eine Flasche mit Aspirin – sie nimmt zwei, wäscht sich und kämmt sich die Haare, holt ihre Zahnbürste aus der Reisetasche und putzt sich die Zähne. Sie macht sich frischen Kaffee und isst eine Scheibe selbst gebackenes Brot, ohne es zu toasten oder sich Butter drauf zu tun. Sie setzt sich an den Küchentisch. Sonnenlicht, das durch die Bäume fällt, bildet kupferfarbene Flecken auf den glatten Stämmen der Erdbeerbäume. Corky fängt an zu bellen und bellt ziemlich lange, bis der Laster auf den Hof fährt und sie zum Schweigen bringt.
Juliet hört die Tür des Lasters zugehen, sie hört ihn mit dem Hund reden, und panische Angst überkommt sie. Sie möchte sich irgendwo verstecken (später sagt sie:
Ich hätte mich am liebsten unter dem Tisch verkrochen
, aber natürlich denkt sie nicht daran, etwas so Lächerliches zu tun). Es ist wie der Augenblick in der Schule, bevor der Gewinner des jährlichen Leistungspreises verkündet wird. Nur schlimmer, weil sie keinen Grund zu Hoffnung hat. Und weil es in ihrem Leben nie wieder eine so weitreichende Entscheidung geben wird.
Als die Tür aufgeht, kann sie nicht hochschauen. Auf ihren Knien sind die Finger beider Hände miteinander verknotet, zusammengekrampft.
»Du bist da«, sagt er. Er lacht triumphierend und bewundernd, wie über ein höchst spektakuläres, unverschämtes Wagestück. Als er die Arme ausbreitet, ist es, als führe ein Wind durchs Zimmer und zwinge sie aufzuschauen.
Vor sechs Monaten wusste sie noch gar nicht, dass dieser Mann überhaupt existierte. Vor sechs Monaten war der Mann, der unter dem Zug starb, noch am Leben und suchte sich vielleicht gerade die Kleidung für seine Reise aus.
»Du bist da.«
Sie hört seiner Stimme an, dass er sie für sich fordert. Sie steht auf, völlig benommen, und sieht, dass er älter, schwerer, ungestümer ist, als sie ihn in Erinnerung hat. Er geht auf sie zu, und sie fühlt sich, als fiele jemand von Kopf bis Fuß über sie her, von Erleichterung überflutet, vom Glück bestürmt. Wie erstaunlich das ist. Wie nah am Erschrecken.
*
Es sollte sich herausstellen, dass Eric gar nicht so überrascht war, wie er getan hatte. Ailo rief ihn am Abend an und sagte ihm etwas von dem merkwürdigen Mädchen, von Juliet, und bot ihm an nachzuschauen, ob das Mädchen den Bus genommen hatte. Er fand es irgendwie richtig zu riskieren, dass sie es tun würde – das Schicksal auf die Probe zu stellen, vielleicht –, aber als Ailo dann anrief, um ihm zu sagen, dass das Mädchen nicht gefahren war, verblüffte ihn die Freude, die er empfand. Trotzdem kam er nicht gleich nach Hause, und er sagte Christa nichts, obwohl er wusste, dass er es ihr sagen musste, und zwar sehr bald.
All das erfährt Juliet häppchenweise in den nächsten Wochen und Monaten. Manches kommt ihr durch Zufall zu Ohren, anderes auf ihre unklugen Nachfragen hin.
Ihr eigenes Geständnis (keine Jungfrau mehr zu sein) wird als unwesentlich abgetan.
Christa ist ganz anders als Ailo. Sie hat weder breite Hüften noch blonde Haare. Sie ist eine dunkelhaarige, schlanke Frau, witzig und manchmal mürrisch, die in den kommenden Jahren Juliets engste Freundin und Vertraute werden wird – obwohl sie sich nie ganz von der Gewohnheit verabschieden wird, leise zu sticheln, das ironische
Weitere Kostenlose Bücher