Tricks
Aufflackern einer unterdrückten Rivalität.
Bald
Zwei Köpfe im Profil sind einander zugewandt. Der eine ist der Kopf einer schneeweißen Färse mit besonders sanftem und liebem Ausdruck, der andere der eines grüngesichtigen Mannes, der weder alt noch jung ist. Er scheint ein kleiner Beamter zu sein, vielleicht ein Briefträger – er hat eine entsprechende Mütze auf. Seine Lippen sind blass, das Weiße seiner Augen glänzt. Eine Hand, wahrscheinlich seine, bringt am unteren Rand des Bildes einen kleinen Baum dar oder einen üppigen Zweig, der Juwelen als Früchte trägt.
Am oberen Rand des Bildes sind dunkle Wolken, und unter ihnen kauern einige kleine, windschiefe Häuser und eine Spielzeugkirche mitsamt Spielzeugkreuz auf dem gewölbten Erdkreis. Innerhalb des Erdkreises geht ein kleiner Mann (jedoch in größerem Maßstab gemalt als die Häuser) mit einer Sense über der Schulter seines Weges, und eine im selben Maßstab gemalte Frau scheint auf ihn zu warten. Aber sie hängt verkehrt herum in der Luft.
Es gibt auch noch anderes zu sehen. Zum Beispiel ein Mädchen, das eine Kuh melkt, innerhalb der Wange der Färse.
Juliet beschloss sofort, diesen Kunstdruck als Weihnachtsgeschenk für ihre Eltern zu kaufen.
»Weil er mich an sie erinnert«, sagte sie zu Christa, ihrer Freundin, die mit ihr aus Whale Bay zu einem Einkaufsbummel hergekommen war. Sie befanden sich im Andenkenladen der Vancouver Art Gallery.
Christa lachte. »Der grüne Mann und die Kuh? Sie werden sich geschmeichelt fühlen.«
Christa nahm anfangs nie etwas ernst, sie musste immer erst einen Witz darüber machen. Juliet störte sich nicht daran. Nach drei Monaten Schwangerschaft mit dem Baby, aus dem Penelope werden sollte, litt sie zum ersten Mal nicht mehr unter Übelkeit, und aus diesem oder einem anderen Grunde neigte sie zu Anfällen von Euphorie. Sie dachte die ganze Zeit über an etwas Essbares und hatte ursprünglich gar nicht in den Andenkenladen gehen wollen, weil sie den Imbiss entdeckt hatte.
Sie liebte alles auf dem Bild, besonders aber die kleinen Gestalten und die windschiefen Häuser ganz oben. Den Mann mit der Sense und die Frau, die verkehrt herum in der Luft hing.
Sie sah nach dem Titel.
Ich und das Dorf
.
Das ergab auf subtile Weise Sinn.
»Chagall. Ich mag Chagall«, sagte Christa. »Picasso war ein Mistkerl.«
Juliet war so glücklich über ihren Fund, dass sie kaum hinhörte.
»Weißt du, was er gesagt haben soll?
Chagall ist was für Ladenmädchen
«, erzählte ihr Christa. »Was gibt es an Ladenmädchen auszusetzen? Chagall hätte sagen sollen, Picasso ist was für Leute mit schiefen Gesichtern.«
»Ich muss bei dem Bild an ihr Leben denken«, sagte Juliet. »Ich weiß nicht, warum, aber es ist so.«
Sie hatte Christa schon einiges von ihren Eltern erzählt – wie sie in einer seltsamen, aber nicht unglücklichen Zurückgezogenheit lebten, obwohl ihr Vater ein beliebter Lehrer war. Zum Teil lag das an Saras Herzkrankheit, aber auch daran, dass sie Zeitschriften abonniert hatten, die niemand um sie herum las, und sich Radiosendungen anhörten, denen niemand um sie herum Gehör schenkte. Daran, dass Sara ihre Kleider selbst – und manchmal ungeschickt – nach
Vogue
-Modellen schneiderte statt nach den handelsüblichen Schnittmusterbögen. Sogar daran, dass sie sich eine jugendliche Figur bewahrten, statt korpulent und krumm zu werden wie die Eltern von Juliets Schulkameraden. Juliet hatte Sam als jemanden beschrieben, der ihr selbst ähnlich sah – langer Hals, ein kleines Grübchen im Kinn, hellbraune, weiche Haare –, und Sara als eine zarte, blasse Blondine, eine grazile, unordentliche Schönheit.
*
Als Penelope dreizehn Monate alt war, flog Juliet mit ihr nach Toronto und nahm dann den Zug. Das war im Jahre 1969 . Sie stieg in einer Stadt aus, die etwa zwanzig Meilen von dem Städtchen entfernt lag, in dem sie aufgewachsen war und in dem Sam und Sara immer noch lebten. Offenbar hielt der Zug dort nicht mehr.
Sie war enttäuscht, auf diesem ungewohnten Bahnhof aussteigen zu müssen und nicht sofort die vertrauten Bäume und Bürgersteige und Häuser zu sehen, und dann, sehr bald, ihr eigenes Haus, Sam und Saras Haus, geräumig, aber schlicht, zweifellos immer noch mit demselben blasigen und verwitterten weißen Anstrich, hinter dem ausladenden Silberahorn.
Sam und Sara, hier in dieser Stadt, in der sie die beiden noch nie gesehen hatte, lächelten zwar, aber ängstlich, verunsichert.
Sara
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