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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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stieß einen merkwürdigen kleinen Schrei aus, als hätte sie etwas gestochen. Ein oder zwei Leute auf dem Bahnsteig drehten sich neugierig um.
    Offenbar war es nur die Aufregung.
    »Wir sind lang und kurz, aber wir passen immer noch zueinander«, sagte sie.
    Anfangs verstand Juliet nicht, was sie meinte. Dann kam sie dahinter – Sara trug einen schwarzen Leinenrock, der ihr bis zu den Waden reichte, und eine dazu passende Jacke. Der Kragen und die Manschetten der Jacke waren aus glänzendem, limonengrünen Stoff mit schwarzen Punkten. Ein Turban aus demselben grünen Material bedeckte ihre Haare. Sie musste dieses Kostüm selbst geschneidert haben oder eine Schneiderin dazu überredet haben, es ihr zu nähen. Die Farben schmeichelten ihrer Haut nicht, die aussah, als hätte sich feiner Kalkstaub darauf niedergelassen.
    Juliet trug ein schwarzes Minikleid.
    »Ich habe mich schon gefragt, was du von mir denken wirst, Schwarz im Sommer, als ob ich Trauer trage«, sagte Sara. »Und jetzt bist du passend dazu angezogen. Du siehst fesch aus, ich bin sehr für diese kurzen Kleider.«
    »Und lange Haare«, sagte Sam. »Ganz wie ein Hippie.« Er beugte sich vor, um dem Baby ins Gesicht zu schauen. »Hallo, Penelope.«
    Sara sagte: »Ach, ist das ein Püppchen.«
    Sie streckte die Hände nach Penelope aus – obwohl die Arme, die aus ihren Ärmeln glitten, viel zu dünn und zerbrechlich waren, um eine solche Last zu tragen. Und das mussten sie auch nicht, weil Penelope, die sich beim ersten Ton der Stimme ihrer Großmutter versteift hatte, jetzt losschrie und sich abwandte und das Gesicht an Juliets Hals barg.
    Sara lachte. »Bin ich so eine Vogelscheuche?« Wieder war ihre Stimme kaum unter Kontrolle, stieg in schrille Höhen auf und verhauchte, zog Blicke auf sich. Das war neu – wenn auch nicht völlig. Juliet kam der Gedanke, dass die Leute sich vielleicht schon immer zu ihrer Mutter umgedreht hatten, wenn sie lachte oder redete, aber früher wäre es ein fröhliches Aufjauchzen gewesen, das ihnen auffiel, etwas Mädchenhaftes und Anziehendes (obwohl das auch nicht allen gefallen hätte, sie hätten gesagt, sie versuche immer, Aufmerksamkeit zu erregen).
    Juliet sagte: »Sie ist schrecklich müde.«
    Sam stellte die junge Frau vor, die hinter ihm und Sara stand, sich ein wenig abseits hielt, als sei ihr daran gelegen, nicht dazuzugehören. Und es war Juliet auch wirklich nicht in den Sinn gekommen, dass sie dazugehörte.
    »Juliet, das ist Irene. Irene Avery.«
    Juliet streckte die Hand aus, so gut sie konnte, ohne Penelope und die Tüte mit Windeln loszulassen, und als deutlich wurde, dass Irene ihr nicht die Hand geben wollte – oder vielleicht ihre Absicht nicht bemerkte –, lächelte sie. Irene erwiderte das Lächeln nicht. Sie stand stockstill, wirkte aber, als wäre sie am liebsten davongelaufen.
    »Hallo«, sagte Juliet.
    Irene sagte: »Freut mich, Sie kennenzulernen«, gerade noch hörbar, aber völlig ausdruckslos.
    »Irene ist unsere gute Fee«, sagte Sara, und da veränderte sich Irenes Gesicht. Es verfinsterte sich ein wenig, spürbar verlegen.
    Sie war nicht so groß wie Juliet – die hochgewachsen war –, aber ihre Schultern und Hüften waren breiter, die Arme kräftig, das Kinn eigensinnig. Sie hatte dichte, lockige schwarze Haare, aus dem Gesicht gekämmt zu einem kurzen Pferdeschwanz, breite und ziemlich feindselige schwarze Augenbrauen und eine Haut, die rasch braun wird. Ihre Augen waren grün oder blau, eine überraschend helle Farbe bei dieser Haut, und tiefliegend, sodass es schwerfiel hineinzuschauen. Auch, weil sie den Kopf leicht gesenkt hielt und das Gesicht zur Seite abwandte. Die Unzugänglichkeit schien trotzige Absicht zu sein.
    »Für eine Fee leistet sie Schwerstarbeit«, sagte Sam mit seinem breiten strategischen Lächeln. »Daraus mache ich kein Geheimnis.«
    Und jetzt fiel Juliet natürlich wieder ein, dass in den Briefen von einer Frau die Rede gewesen war, die im Haus aushalf, weil Saras Kräfte rapide nachließen. Aber sie hatte sich eine wesentlich ältere Frau vorgestellt. Irene war bestimmt nicht älter als sie selbst.
    Das Auto war immer noch derselbe Pontiac, den Sam vor ungefähr zehn Jahren gebraucht gekauft hatte. Der ursprünglich blaue Lack war noch stellenweise zu sehen, aber sonst zu Grau verblichen, und die Wirkung des Streusalzes auf den winterlichen Straßen war an den Rostsäumen zu sehen.
    »Die alte graue Stute«, sagte Sara, fast außer Atem nach den wenigen

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