Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
Unfall bezogen, in dem Gefühl, dass ihre Neugier unhöflich gewesen war und dass ihr Beileid jetzt geheuchelt war, erwiderte Irene: »Tja. Gerade rechtzeitig zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag«, als seien Unglücksfälle etwas, was man sammelte wie Amulette an einem Armband.
    Nachdem Penelope so viel von dem Ei gegessen hatte, wie sie ohne Protest mochte, lud Juliet sie sich auf die Hüfte und trug sie nach oben.
    Auf halbem Wege fiel ihr ein, dass sie die Untertasse nicht abgewaschen hatte.
    Es gab keinen Ort, an dem sie die Kleine lassen konnte, die noch nicht lief, aber sehr flink umherkrabbelte. Auf keinen Fall durfte sie in der Küche auch nur fünf Minuten sich selbst überlassen bleiben, mit dem kochenden Wasser im Sterilisator und der heißen Marmelade und den Küchenmessern, und von Irene war es zu viel verlangt, auf sie aufzupassen. Außerdem hatte sie sich gleich als Erstes am Morgen wieder geweigert, sich mit Sara anzufreunden. Also trug Juliet sie zur Bodentreppe hoch, die sich hinter einer Tür verbarg, und setzte sie, nachdem sie die Tür wieder zugemacht hatte, zum Spielen auf den Stufen ab, um sich auf die Suche nach dem alten Laufställchen zu begeben. Zum Glück kannte Penelope sich mit Stufen bestens aus.
    Das Haus war zweigeschossig, mit hohen, aber – so kam es Juliet jetzt vor – nur puppenstubengroßen Zimmern. Es hatte ein Steildach, so dass man in der Mitte des Dachbodens aufrecht umhergehen konnte. Was Juliet als Kind oft getan hatte. Sie war immer umherspaziert und hatte sich Geschichten erzählt, die sie gelesen hatte, mit gewissen Ergänzungen oder Abwandlungen. Hatte getanzt – auch das, vor einem imaginären Publikum. Das reale Publikum bestand aus kaputten oder einfach ausrangierten Möbelstücken, alten Truhen, einem ungeheuer schweren Büffelfell, einem Nistkasten für Purpurschwalben (ein Geschenk von inzwischen längst erwachsenen Schülern von Sam, das niemals ein Brutpärchen von Purpurschwalben angelockt hatte), dem deutschen Soldatenhelm, den Sams Vaters angeblich aus dem Ersten Weltkrieg mitgebracht hatte, und einem unfreiwillig komischen Gemälde eines Sonntagsmalers vom Untergang der
Empress of Ireland
im Golf von St. Lorenz, mit Strichmännchen, die in alle Richtungen davonflogen.
    Und dort, an die Wand gelehnt, stand
Ich und das Dorf
. Die Bildseite nach vorn – es war kein Versuch unternommen worden, es zu verstecken. Und es lag kaum Staub darauf, es stand also noch nicht lange da.
    Nach kurzer Suche fand sie das Laufställchen. Es war ein hübsches, schweres Möbelstück, mit einem Boden aus Holz und Stäben in den Seitenwänden. Und den Kinderwagen. Ihre Eltern hatten alles aufgehoben, in der Hoffnung auf ein weiteres Kind. Es hatte mindestens eine Fehlgeburt gegeben. Gelächter aus dem Ehebett, am Sonntagmorgen, hatte Juliet das Gefühl gegeben, im Haus mache sich eine heimliche, sogar unanständige, für sie selbst nicht günstige Störung breit.
    Der Kinderwagen war ein Modell, das sich zu einem offenen Sportwägelchen zusammenklappen ließ. Etwas, was Juliet vergessen oder nicht gewusst hatte. Inzwischen schweißgebadet und mit Staub bedeckt, machte sie sich ans Werk, um diese Verwandlung zu bewirken. Solche Arbeit fiel ihr nie leicht, sie begriff nie auf Anhieb, wie die Gegenstände zusammengesetzt waren, und sie hätte das ganze Ding hinunterschleppen und in den Garten gehen und Sam zu Hilfe holen können, aber der Gedanke an Irene hielt sie davon ab. Irenes huschende blasse Augen, die indirekten, aber prüfenden Blicke, die tüchtigen Hände. Ihre Wachsamkeit, in der etwas lag, das nicht ganz Verachtung genannt werden konnte. Juliet wusste nicht, wie man es nennen sollte. Eine Haltung, gleichgültig, aber unnachgiebig, wie die einer Katze.
    Sie schaffte es schließlich, den Sportwagen zu fabrizieren. Er war schwerfällig, um die Hälfte größer als der Wagen, den sie gewohnt war. Und natürlich schmutzig. Wie inzwischen sie selbst und noch mehr, auf den Stufen, Penelope. Und direkt neben den Händen des Babys lag etwas, das Juliet nicht einmal wahrgenommen hatte. Ein Nagel. Eins von den Dingen, denen man keine Beachtung schenkte, bis man ein Kleinkind im Von-der-Hand-in-denMund-Stadium hatte, und nach denen man dann ständig Ausschau halten musste.
    Was sie nicht getan hatte. Alles hatte sie abgelenkt. Die Hitze, Irene, die Dinge, die ihr vertraut waren, und die Dinge, die ihr nicht vertraut waren.
    Ich und das Dorf
.
    *
    »Ach«, sagte Sara. »Ich

Weitere Kostenlose Bücher