Tricks
dass die Leute Juliet genauer anschauen und überlegen, wo sie sie schon gesehen haben, und manchmal fällt es ihnen ein. Sie erscheint regelmäßig bei dem Sender Provincial Television und interviewt Menschen, die ein besonderes oder bemerkenswertes Leben führen, und sie moderiert geschickt Diskussionsrunden, in einer Sendung namens
Themen des Tages
. Ihre Haare sind jetzt kurz geschnitten, so kurz wie möglich, und haben eine sehr dunkle, kastanienbraune Farbe angenommen, die zum Gestell ihrer Brille passt. Sie trägt oft eine schwarze Hose – wie auch heute –, eine elfenbeinfarbene Seidenbluse und manchmal eine schwarze Jacke. Sie ist, wie ihre Mutter gesagt hätte, eine Erscheinung.
»Entschuldigen Sie. Sie werden bestimmt ständig angesprochen.«
»Macht nichts«, sagt Juliet. »Außer wenn ich gerade beim Zahnarzt war oder so.«
Die Frau ist ungefähr in Juliets Alter. Lange schwarze Haare mit grauen Strähnen, kein Make-up, langer Jeansrock. Sie ist auf Denman Island zu Hause, also fragt Juliet sie, was sie über das dortige »Zentrum für spirituelles Gleichgewicht« weiß.
»Meine Tochter ist nämlich dort«, sagt Juliet. »Sie ist in Klausur gegangen oder hat an einem Kurs teilgenommen, ich weiß nicht, wie das dort genannt wird. Für sechs Monate. Ich kriege sie jetzt zum ersten Mal seit sechs Monaten zu sehen.«
»Es gibt mehrere solcher Einrichtungen«, sagt die Frau. »Sie kommen und gehen. Ich will damit nichts Negatives darüber sagen. Nur, dass sie meistens mitten im Wald liegen und nicht viel mit den Ortsansässigen zu tun haben. Aber das ist ja wohl auch der Sinn einer Klausur.«
Sie sagt, dass Juliet sich bestimmt freut, ihre Tochter wiederzusehen, und Juliet bestätigt, ja, sehr.
»Ich bin verwöhnt«, sagt sie. »Meine Tochter ist zwanzig Jahre alt – diesen Monat wird sie übrigens einundzwanzig –, und wir waren noch nicht oft voneinander getrennt.«
Die Frau sagt, dass sie einen Sohn von zwanzig, eine Tochter von achtzehn und noch eine von fünfzehn Jahren hat und dass es Tage gibt, an denen sie ihnen etwas dafür
zahlen
würde, in Klausur zu gehen, einzeln oder alle zusammen.
Juliet lacht. »Ja, ja. Ich habe nur die eine. Aber natürlich kann ich nicht dafür garantieren, dass ich sie in ein paar Wochen nicht am liebsten zurückschicken würde.«
Dies ist eins dieser liebevollen, aber von blank liegenden Nerven zeugenden Müttergespräche, in das sie leicht hineinfindet (Juliet versteht sich bestens auf bestärkende Antworten), aber in Wahrheit hat Penelope ihr kaum je Anlass zu Klagen gegeben, und wenn man von ihr verlangte, absolut ehrlich zu sein, dann würde sie jetzt zugeben müssen, dass ein Tag ohne jede Verbindung mit ihrer Tochter schwer zu ertragen ist, ganz zu schweigen von sechs Monaten. Penelope hat in Banff gearbeitet, als Zimmermädchen für die Sommersaison, sie ist auch mit dem Bus bis nach Mexiko gefahren und per Anhalter nach Neufundland. Aber sie hat immer bei Juliet gelebt, und es hat noch nie eine Unterbrechung von sechs Monaten gegeben.
Sie macht mir Freude
, hätte Juliet sagen können.
Nicht, weil sie eine von diesen Frohnaturen ist, die immer gut drauf sind und alles von der positiven Seite sehen. Ich hoffe, ich habe ihr etwas Besseres mit auf den Weg gegeben. Sie bringt Mitgefühl und Verständnis auf und ist so lebensklug, als wäre sie schon seit achtzig Jahren auf dieser Welt. Sie ist von Natur aus eher nachdenklich, nicht so rührig wie ich. Ein wenig schweigsam, wie ihr Vater. Außerdem ist sie von engelsgleicher Schönheit, sie kommt nach meiner Mutter, ist blond wie meine Mutter, aber nicht so zart. Kräftig und stattlich. Ich möchte fast sagen, die Gestalt einer Karyatide. Und im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorstellungen bin ich überhaupt nicht eifersüchtig. In dieser Zeit ohne sie – und ohne ein Wort von ihr, denn spirituelles Gleichgewicht erlaubt weder Briefe noch Anrufe – in dieser ganzen Zeit habe ich mich in einer Art Wüste befunden, und als ihre Nachricht kam, war ich wie ein Stück alte, rissige Erde, die sich an einem Regenguss labt.
*
Hoffe, Dich Sonntagnachmittag zu sehen. Es ist Zeit.
Zeit, nach Hause zurückzukehren, hatte das zu bedeuten, so hoffte Juliet zumindest, aber das würde sie natürlich Penelope überlassen.
*
Penelope hatte eine stark vereinfachte Karte gezeichnet, und Juliet landete mit ihrem Auto nach kurzer Fahrt vor einer alten Kirche – genauer gesagt, vor einem fünfundsiebzig oder achtzig
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