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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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der Penelopes Namen und ihr Geburtsdatum in den Akten hatte. Ihr Zahnarzt vielleicht oder ihr Fahrlehrer. Aber als sie die Anschrift auf dem Umschlag überprüfte, sah sie, dass ihr kein Fehler unterlaufen war – da stand tatsächlich ihr eigener Name, geschrieben in Penelopes Handschrift.
    Poststempel gaben einem keine Auskunft mehr. Alle besagten nur noch
Canada Post
. Juliet meinte gehört zu haben, dass sich zumindest feststellen ließ, aus welcher Provinz ein Brief kam, aber dafür musste man die Post zu Rate ziehen, mit dem Brief aufs Postamt gehen und höchstwahrscheinlich den Nachweis erbringen, dass man ein Recht auf die Information hatte. Und irgendjemand würde sie unweigerlich erkennen.
    *
    Juliet suchte ihre alte Freundin Christa auf, die in Whale Bay gelebt hatte, als sie auch dort lebte, noch vor Penelopes Geburt. Christa wohnte jetzt in Kitsilano, in einer Einrichtung für betreutes Wohnen. Sie hatte multiple Sklerose. Ihr Zimmer lag im Erdgeschoss, mit einer kleinen privaten Terrasse, und dort saß Juliet mit ihr, mit Blick auf ein sonniges Stückchen Rasen und die blühende Wistarie an dem Zaun, der die Mülltonnen verbarg.
    Juliet erzählte Christa die ganze Geschichte von der Fahrt nach Denman Island. Sie hatte das niemandem sonst erzählt und hatte gehofft, es vielleicht auch niemandem erzählen zu müssen. Jeden Tag hatte sie sich auf dem Heimweg von der Arbeit gefragt, ob Penelope vielleicht in der Wohnung warten würde. Oder ob wenigstens ein Brief da sein würde. Und dann war ein Brief da gewesen – diese unfreundliche Karte –, und sie hatte ihn mit zitternden Händen aufgerissen.
    »Das hat etwas zu bedeuten«, sagte Christa. »Es gibt dir zu verstehen, dass es ihr gut geht. Irgendetwas wird folgen. Bestimmt. Hab Geduld.«
    Juliet redete eine Weile erbittert über die Hexe Shipton. Für diesen Schimpfnamen hatte sie sich schließlich entschieden, Päpstin Johanna hatte ihr dann doch nicht gefallen. Was für eine unverschämte Schikane, sagte sie. Welche Gehässigkeit und Gemeinheit hinter dieser zweitklassigen religiösen Fassade. Undenkbar, dass Penelope auf sie hereingefallen war.
    Christa brachte vor, dass Penelope den Ort vielleicht mit dem Gedanken aufgesucht hatte, etwas darüber zu schreiben. Im Stile des Enthüllungsjournalismus. Feldforschung. Der persönliche Blickwinkel – das langatmige Zeug aus persönlichem Erleben heraus, das heutzutage so beliebt war.
    »Feldforschung sechs Monate lang?«, sagte Juliet. »Penelope hätte die Hexe Shipton in zehn Minuten durchschaut.«
    »Ja, sonderbar«, gab Christa zu.
    »Weißt du etwa mehr, als du mir sagst?«, fragte Juliet. »Ich frage dich das äußerst ungern. Aber ich bin völlig ratlos. Ich komme mir so dumm vor. Das war natürlich die Absicht dieser Frau, dass ich mir dumm vorkomme. Wie die Figur im Theaterstück, die mit etwas herausplatzt, und alle wenden sich ab, denn alle anderen wissen etwas, was sie nicht weiß…«
    »Solche Stücke werden nicht mehr gespielt«, sagte Christa. »Heute weiß keiner mehr was. Nein – Penelope hat mich nicht weiter ins Vertrauen gezogen als dich. Warum sollte sie auch? Sie weiß ja, dass ich es dir prompt weitersage.«
    Juliet schwieg einen Augenblick, dann murrte sie vorwurfsvoll: »Es hat Dinge gegeben, die du mir nicht gesagt hast.«
    »Ach du lieber Gott«, sagte Christa, aber ohne jeden Groll. »Nicht das wieder.«
    »Nicht das wieder«, stimmte Juliet zu. »Ich habe schlechte Laune, weiter nichts.«
    »Du musst einfach durchhalten. Eine der Prüfungen der Mutterschaft. Immerhin hat sie dir noch nicht viele auferlegt. In einem Jahr wird das alles der Vergangenheit angehören.«
    Juliet erzählte ihr nicht, dass es ihr am Ende nicht gelungen war, würdevoll fortzugehen. Sie hatte sich umgedreht und laut gerufen, flehentlich, wütend.
    »Was hat sie Ihnen gesagt?«
    Und die Hexe Shipton hatte dagestanden und ihr hinterhergeschaut, als hätte sie mit so etwas gerechnet. Ein sattes, mitleidiges Lächeln mit geschlossenen Lippen hatte ihr Kopfschütteln begleitet.
    *
    Im Laufe des nächsten Jahres erhielt Juliet hin und wieder Anrufe von Leuten, die lose mit Penelope befreundet waren. Ihre Antwort auf deren Nachfragen war immer die gleiche. Penelope hatte sich entschieden, ein Jahr lang auszusetzen. Sie war auf Reisen. Ihre Reiseroute war überhaupt nicht festgelegt, und Juliet hatte keine Möglichkeit, sie zu erreichen, und konnte auch keine Adresse nennen.
    Sie hörte jedoch nichts von

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