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Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Schauder, als träfen sie die Worte der beiden, die jedoch davon gar nichts bemerkten.
    Was dann ihrem Disput ein Ende bereitete, das war das laute Geschrei von Penelope, die nass aufgewacht war und sich eine Weile lang leise beklagt hatte, dann energischer, und schließlich ihrer Wut freien Lauf ließ. Sara hörte sie als Erste und versuchte, die beiden darauf aufmerksam zu machen.
    »Penelope«, sagte sie schwach, dann, mit mehr Anstrengung: »Juliet, Penelope.« Juliet und der Geistliche sahen sie beide unwirsch an, dann sagte der Geistliche, mit plötzlich gesenkter Stimme: »Ihr Baby.«
    Juliet eilte aus dem Zimmer. Sie zitterte, als sie Penelope hochnahm, und stach sie beinahe, als sie die trockene Windel feststeckte. Penelope hörte auf zu weinen, nicht, weil sie getröstet war, sondern weil diese rauhe Behandlung sie erschreckte. Ihre weit aufgerissenen nassen Augen, ihr erstaunter Blick drangen durch Juliets Geistesabwesenheit, und sie versuchte, sich zu beruhigen, redete, so sanft sie konnte, mit ihr, nahm sie dann auf den Arm und ging mit ihr im oberen Flur auf und ab. Penelope war nicht sofort besänftigt, aber nach ein paar Minuten verließ die Spannung allmählich ihren Körper.
    Juliet spürte, dass es ihr genauso erging, und als sie meinte, dass sie beide wieder über ein gewisses Maß an Ruhe und Beherrschung verfügten, trug sie Penelope hinunter.
    Der Geistliche war aus Saras Zimmer gekommen und wartete auf sie. In einem Tonfall, der zerknirscht sein mochte, aber eher ängstlich wirkte, sagte er: »Das ist ein hübsches Baby.«
    Juliet sagte: »Vielen Dank.«
    Sie dachte, dass sie sich jetzt in aller Form voneinander verabschieden konnten, aber etwas hielt ihn zurück. Er sah sie weiterhin an, er rührte sich nicht von der Stelle. Er streckte die Hand aus, als wollte er ihre Schulter ergreifen, dann ließ er sie fallen.
    »Wissen Sie, ob etwas …«, sagte er, dann schüttelte er kurz den Kopf. Das
etwas
hatte wie
etfasch
geklungen.
    »Schaff«, sagte er und fuhr sich mit der Hand an den Hals. Dann deutete er zur Küche.
    Juliets erster Gedanke war, dass er betrunken sein musste. Sein Kopf schwankte leicht hin und her, seine Augen waren glasig. War er betrunken hergekommen, hatte er etwas in der Hosentasche mitgebracht? Dann erinnerte sie sich. Ein Mädchen, eine Schülerin in der Schule, in der sie ein halbes Jahr lang unterrichtet hatte. Dieses Mädchen, eine Diabetikerin, bekam jedesmal eine Art Anfall, sprach undeutlich, war verwirrt und torkelte, wenn sie zu lange nichts gegessen hatte.
    Sie verlagerte Penelope auf eine Hüfte, ergriff seinen Arm und führte ihn in die Küche. Saft. Den hatten sie dem Mädchen immer gegeben, das hatte er sagen wollen.
    »Augenblick, Augenblick, gleich wird's besser«, sagte sie. Er hielt sich aufrecht, mit gesenktem Kopf, die Hände auf den Küchentisch gestützt.
    Der Orangensaft war alle – ihr fiel ein, dass sie morgens den letzten Rest Penelope gegeben hatte und noch gedacht hatte, dass sie neuen besorgen musste. Aber eine Flasche Pampelmusenlimonade war da, die Sam und Irene gerne tranken, wenn sie von der Gartenarbeit hereinkamen.
    »Da«, sagte sie. Mit einer Hand, wie sie es inzwischen gewohnt war, goss sie ihm ein Glas ein. »Da.« Und als er es trank, sagte sie: »Tut mir leid, Saft ist nicht da. Aber es ist der Zucker, nicht wahr? Sie brauchen den Zucker?«
    Er leerte das Glas, er sagte: »Ja. Zucker. Danke.« Seine Aussprache wurde schon wieder deutlicher. Daran erinnerte sie sich auch, bei dem Mädchen in der Schule – wie rasch die Erholung vor sich ging, als geschehe ein Wunder. Aber bevor er sich ganz erholt hatte oder wieder ganz er selbst war, während er immer noch den Kopf schief hielt, sah er ihr in die Augen. Nicht absichtlich, so schien es, sondern rein zufällig. Der Ausdruck seiner Augen war nicht dankbar oder versöhnlich – eigentlich sogar unpersönlich, es war nur der wilde Blick eines zutiefst verstörten Tieres, das sich an alles klammert, was es finden kann.
    Und innerhalb weniger Sekunden wurden die Augen, wurde das Gesicht wieder zu dem Gesicht des Mannes, des Geistlichen, der das Glas absetzte und ohne ein weiteres Wort das Haus fluchtartig verließ.
    *
    Sara schlief entweder oder stellte sich schlafend, als Juliet zu ihr hineinging, um das Tablett mit den Teesachen zu holen. Die Zustände des Schlafens, des Dösens und des Wachseins hatten bei ihr jetzt so feine und verschwimmende Grenzen, dass es schwerfiel, sie zu

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