Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
irgendjemandem, der zum engen Freundeskreis zählte. Das konnte bedeuten, dass diejenigen, die Penelope nahestanden, sehr wohl wussten, wo sie war. Oder es war möglich, dass auch sie in fernen Ländern auf Reisen waren, Jobs in anderen Provinzen gefunden hatten oder ein neues Leben begonnen hatten, das zu turbulent und aufregend war, um ihnen zu gestatten, an alte Freunde zu denken.
    (Alte Freunde, damit war in jenem Lebensstadium jemand gemeint, den man seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hatte.)
    Jedes Mal, wenn sie nach Hause kam, sah Juliet als Erstes nach, ob das Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter blinkte – genau das, was sie bislang stets vermieden hatte, da es jemand sein konnte, der sie wegen ihrer öffentlichen Äußerungen belästigte. Sie probierte es mit verschiedenen albernen Tricks, die damit zu tun hatten, wie viele Schritte sie bis zum Telefon brauchte, wie sie den Hörer abnahm, wie sie atmete.
Gib, dass sie es ist.
    Nichts fruchtete. Nach einer Weile schien die Welt sich von allen, die Penelope gekannt hatte, geleert zu haben, von den Jungen, mit denen sie Schluss gemacht hatte, und denen, die mit ihr Schluss gemacht hatten, von den Mädchen, mit denen sie sich ausgetauscht und denen sie sich wahrscheinlich anvertraut hatte. Sie war nicht auf eine staatliche High School, sondern auf ein privates Mädcheninternat – Torrance House – gegangen, und das bedeutete, dass die meisten ihrer langjährigen Freundinnen, sogar die, mit denen sie auch auf dem College noch befreundet war, von außerhalb gekommen waren. Einige aus Alaska oder Prince George oder Peru.
    Zu Weihnachten kam keine Nachricht. Aber im Juni wieder eine Karte, ganz im Stil der ersten, ohne ein geschriebenes Wort. Juliet trank ein Glas Wein, bevor sie den Umschlag öffnete, und warf sie dann sofort weg. Sie hatte Tränenausbrüche, hin und wieder wurde sie von einem unkontrollierbaren Zittern gepackt, aber sie befreite sich aus diesen Zuständen mit jähen Wutanfällen, tigerte in der Wohnung umher und schlug sich mit der Faust in die flache Hand. Die Wut war gegen die Hexe Shipton gerichtet, aber das Bild dieser Frau war verblasst, und schließlich musste Juliet erkennen, dass sie eigentlich nur ein Blitzableiter war.
    Die Fotos von Penelope wurden in ihr Zimmer verbannt, zusammen mit den zahlreichen Bleistift- und Kreidezeichnungen, die sie angefertigt hatte, bevor sie aus Whale Bay weggezogen waren, ihren Büchern und der kleinen europäischen Kaffeekanne mit dem Tauchkolben, die sie Juliet von ihrem ersten, in einem Ferienjob bei McDonald's verdienten Geld geschenkt hatte. Auch solche kuriosen Mitbringsel für die Wohnung wie ein winziger Plastikventilator, den man am Kühlschrank befestigen konnte, ein Spielzeugtrecker zum Aufziehen, ein Vorhang aus Glasperlen für das Badezimmerfenster. Die Tür von Penelopes Zimmer blieb fest zu, und im Laufe der Zeit würde es möglich sein, an der Tür vorbeizugehen, ohne einen Stich zu verspüren.
    *
    Juliet dachte oft daran, aus dieser Wohnung auszuziehen und sich eine neue Umgebung zu gönnen. Aber sie sagte zu Christa, dass sie das nicht tun konnte, denn das war die Adresse, die Penelope hatte, und Post wurde nur drei Monate lang nachgeschickt, also würde sie für ihre Tochter unauffindbar sein.
    »Sie kann dich immer beim Sender erreichen«, sagte Christa.
    »Wer weiß, wie lange ich dort noch sein werde?«, sagte Juliet. »Wahrscheinlich ist sie in einer Kommune, in der Kommunikationsverbot herrscht. Mit einem Guru, der mit allen Frauen da schläft und sie zum Betteln auf die Straßen schickt. Wenn ich sie in die Sonntagsschule gesteckt hätte und ihr beigebracht hätte, ihre Gebete zu sprechen, wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Ich hätte es tun sollen. Ich hätte es tun sollen. Es wäre wie eine Schutzimpfung gewesen. Ich habe ihre
Spiritualität
vernachlässigt. Behauptet die Hexe Shipton.«
    *
    Als Penelope gerade dreizehn Jahre alt war, war sie zum Zelten in die Kootenay Mountains von British Columbia gefahren, zusammen mit einer Freundin aus Torrance House und deren Familie. Juliet befürwortete das. Penelope war erst seit einem Jahr in Torrance House (zu günstigen finanziellen Bedingungen, da ihre Mutter dort früher unterrichtet hatte), und es gefiel Juliet, dass sie schon eine so gute Freundin gefunden hatte und so bereitwillig von der Familie der Freundin aufgenommen wurde. Auch, dass sie zum Zelten fuhr – etwas, das normale Kinder taten und wozu Juliet als

Weitere Kostenlose Bücher