Tricks
sich, sie brauche eine totale Veränderung. Sie kehrte zum Studium der Klassischen Philologie zurück – der Fachbereich war inzwischen noch kleiner als früher ohnehin schon – und hatte vor, sich wieder an ihre Doktorarbeit zu begeben. Sie zog aus der Hochhauswohnung aus und suchte sich eine Einzimmerwohnung, um Geld zu sparen.
Ihr Freund hatte eine Lehrerstelle in China bekommen.
Ihre Wohnung befand sich im Souterrain, aber die Schiebetür nach hinten hinaus war ebenerdig und führte auf eine kleine, mit Ziegelsteinen gepflasterte Terrasse. Und dort hatte sie ein Spalier für Zuckererbsen und für eine Klematis, dazu Kräuter und Blumen in Töpfen. Zum ersten Mal in ihrem Leben und auf sehr bescheidene Weise gärtnerte sie, wie ihr Vater es getan hatte.
Manchmal sagte jemand zu ihr – in einem Geschäft oder in dem Bus zum College-Campus –: »Entschuldigen Sie, aber Ihr Gesicht kommt mir so bekannt vor« oder »Sind Sie nicht früher im Fernsehen gewesen?« Aber nach etwa einem Jahr war das vorbei. Sie verbrachte viel Zeit damit, an Bistrotischen auf dem Bürgersteig zu sitzen, zu lesen und Kaffee zu trinken, und niemand nahm von ihr Notiz. Im Laufe der Jahre, in denen ihr Haar rot gefärbt gewesen war, hatte es die Kraft seines natürlichen Brauntons verloren – es war jetzt silbrig-braun, fein und wellig. Sie wurde an ihre Mutter erinnert, an Sara. An Saras weiches, helles, fliegendes Haar, das grau geworden war und dann weiß.
Sie hatte nicht mehr genug Platz, um Leute zum Essen einzuladen, und verlor das Interesse an Rezepten. Ihr Speiseplan war ausreichend nahrhaft, aber eintönig. Ohne es eigentlich zu wollen, verlor sie den Kontakt zu den meisten ihrer Freunde.
Das war kein Wunder. Sie führte jetzt ein Leben, das sich so stark wie nur möglich von dem Leben der öffentlichen, lebhaften, engagierten und hervorragend informierten Frau, die sie gewesen war, unterschied. Sie lebte inmitten von Büchern, las nahezu von früh bis spät und sah sich gezwungen, ihre ursprünglichen Vorsätze zu erweitern, zu ändern. Sie versäumte oft eine ganze Woche lang die Nachrichten.
Sie hatte ihre Doktorarbeit aufgegeben und entwickelte ein Interesse für einige Autoren, die als die griechischen Romanschriftsteller bezeichnet werden und deren Werke in der Geschichte der altgriechischen Literatur erst recht spät erscheinen (einsetzend im ersten Jahrhundert vor Beginn der christlichen Zeitrechnung, wie sie das inzwischen zu nennen gelernt hatte, reichten sie bis ins frühe Mittelalter). Aristeides, Longus, Heliodoros, Achilleus Tatios. Viele ihrer Werke sind verloren gegangen oder nur in Bruchstücken erhalten und gelten außerdem als anstößig. Aber es gibt einen Liebesroman von Heliodoros mit dem Titel
Aithiopika
(ursprünglich in Privatbesitz, wiederentdeckt bei der Belagerung von Buda), der in Europa bekannt ist, seit er 1534 in Basel gedruckt wurde.
In dieser Geschichte bringt die Königin von Äthiopien ein weißes Kind zur Welt und befürchtet, dass man sie des Ehebruchs beschuldigen wird. Also gibt sie das Kind – eine Tochter – in die Obhut der Gymnosophisten, nackte Philosophen, die Eremiten und Mystiker sind. Das Mädchen, das Charikleia heißt, gerät schließlich nach Delphi, wo sie eine der Priesterinnen der Artemis wird. Dort begegnet sie einem vornehmen Thessalier namens Theagenes, der sich in sie verliebt und sie mit Hilfe eines pfiffigen Ägypters entführt. Die äthiopische Königin, so stellt sich heraus, hat nie aufgehört, sich nach ihrer Tochter zu sehnen, und hat eben jenen Ägypter in ihre Dienste genommen und damit beauftragt, nach ihr zu suchen. Ungemach und Abenteuer setzen sich fort, bis alle Hauptpersonen in Mero zusammentreffen und Charikleia – wiederum – gerettet wird, gerade als ihr leiblicher Vater sie opfern will.
Es wimmelte also nur so von interessanten Themen, und die Erzählung übte auf Juliet eine natürliche, anhaltende Faszination aus. Besonders der Teil über die Gymnosophisten. Sie versuchte so viel wie möglich über diese Leute in Erfahrung zu bringen, die meistens als hinduistische Philosophen bezeichnet wurden. Grenzte also Indien nach damaliger Meinung an Äthiopien? Nein – Heliodoros war spät genug dran, um sich in der Geographie besser auszukennen. Die Gymnosophisten mussten weite Wanderungen unternommen, sich in alle Winde zerstreut haben, für jene, unter denen sie lebten, anziehend und abstoßend zugleich, wegen ihrer bedingungslosen Hingabe an
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