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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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nicht vorstellen, darin zu bleiben. Sie hatte den Lastwagen verkauft und Erics Gerätschaften weggegeben, wie auch die Garnelenkörbe, die geborgen worden waren, und das Beiboot. Erics erwachsener Sohn aus Saskatchewan war gekommen und hatte den Hund geholt.
    Sie hatte sich um eine Stellung im Lesesaal der College-Bibliothek und um eine Stellung in der Stadtbücherei beworben, und sie hatte das Gefühl, dass sie die eine oder die andere bekommen würde. Sie sah sich in der Gegend von Kitsilano, Dunbar und Point Grey Wohnungen an. Die Sauberkeit, Ordentlichkeit und Leichtigkeit großstädtischen Lebens überraschte sie immer wieder. So lebten also die Menschen an einem Ort, wo die Arbeit des Mannes nicht unter freiem Himmel stattfand und wo diverse damit verbundene Arbeitsgänge nicht bis in den Haushalt reichten. Wo das Wetter vielleicht die Laune bestimmte, aber niemals das Leben, wo solche existenzgefährdenden Phänomene wie der Wandel im Verhalten und Vorkommen von Garnelen und Lachsen lediglich interessant oder überhaupt keine Gesprächsthemen waren. Das Leben, das sie in Whale Bay noch vor so kurzer Zeit geführt hatte, kam ihr im Vergleich dazu willkürlich, chaotisch und anstrengend vor. Und sie selbst war befreit von der üblen Laune der letzten Monate – sie war energisch und tüchtig und sah besser aus.
    Eric sollte sie mal jetzt sehen.
    So dachte sie die ganze Zeit an Eric. Nicht, dass ihr nicht bewusst gewesen wäre, dass Eric tot war – das geschah keinen Augenblick. Trotzdem bezog sie sich im Geiste ständig auf ihn, als sei er immer noch der Mensch, für den ihr Leben wichtiger war, als es für irgendjemand anders sein konnte. Als sei er immer noch der Mensch, in dessen Augen sie zu leuchten hoffte. Auch der Mensch, dem sie Streitfragen, Informationen und Überraschungen anvertraute. Das war ihr so zur Gewohnheit geworden und fand derart automatisch statt, dass die Tatsache seines Todes es nicht zu beeinträchtigen schien.
    Auch war der letzte Streit mit ihm noch nicht völlig beigelegt. Sie zog ihn immer noch wegen seiner Treulosigkeit zur Rechenschaft. Wenn sie sich jetzt ein wenig aufhübschte, dann aus Protest dagegen.
    Der Sturm, die Bergung der Leiche, die Verbrennung am Strand – das war alles wie ein Historienspiel, dem sie hatte zuschauen und Glauben schenken müssen, das jedoch nichts mit Eric und ihr zu tun hatte.
    *
    Sie bekam die Stellung im Lesesaal, sie fand eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern, die sie sich gerade noch leisten konnte, und Penelope konnte als Externe nach Torrance House zurück. Ihr Haushalt in Whale Bay wurde aufgelöst, ihr Leben dort war beendet. Sogar Christa zog fort und kam im Frühjahr nach Vancouver.
    Einen Tag davor, an einem Tag im Februar, stand Juliet nach Arbeitsschluss am späten Nachmittag im Wartehäuschen der Bushaltestelle auf dem CollegeCampus. Der stundenlange Regen hatte aufgehört, im Westen war ein Streifen klarer Himmel zu sehen, rot dort, wo die Sonne untergegangen war, draußen hinter der Meerenge von Georgia. Dieses Zeichen der wieder länger werdenden Tage, diese Verheißung einer neuen Jahreszeit, hatte eine Wirkung auf sie, die unerwartet und niederschmetternd war.
    Ihr kam zu Bewusstsein, dass Eric tot war.
    Als hätte er die ganze Zeit über, seit sie in Vancouver war, irgendwo auf sie gewartet, hätte abgewartet, ob sie ihr Leben mit ihm wieder aufnahm. Als wäre das Zusammenleben mit ihm eine Möglichkeit, die ihr immer noch offenstand. Seitdem sie hier war, hatte sie stets mit Eric im Hintergrund gelebt, ohne je ganz zu verstehen, dass Eric nicht mehr da war. Nichts von ihm war mehr da. Die Erinnerung an ihn zog sich aus der normalen Alltagswelt zurück.
    Das also ist Trauer. Sie fühlt sich, als sei ein Sack Zement in sie hineingekippt worden, der rasch zu Beton aushärtet. Sie kann sich kaum bewegen. In den Bus einsteigen, aus dem Bus aussteigen, eine halbe Querstraße weit zu ihrem Haus gehen (warum wohnt sie da?) ist, als müsse sie einen Steilhang erklimmen. Und jetzt muss sie das vor Penelope verbergen.
    Am Abendbrottisch fing sie an zu zittern, konnte aber die Hände nicht entkrampfen, um Messer und Gabel loszulassen. Penelope kam um den Tisch und löste ihr die Finger. Sie sagte: »Es ist Dad, nicht wahr?«
    Juliet erzählte hinterher einigen wenigen Menschen – darunter Christa –, dass diese Worte für sie die verzeihendsten, die zärtlichsten waren, die sie je von jemandem gehört hatte.
    Penelope strich mit ihren

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