Tricks
kühlen Händen über die Innenseiten von Juliets Armen, hinauf und hinunter. Sie rief am nächsten Tag die Bibliothek an, um zu sagen, dass ihre Mutter krank sei, und sie pflegte sie mehrere Tage lang, ging nicht zur Schule, bis Juliet sich erholt hatte. Oder zumindest, bis das Schlimmste vorbei war.
Im Laufe dieser Tage erzählte Juliet Penelope alles. Christa, den Streit, die Leichenverbrennung am Strand (die sie bisher, fast auf wundersame Weise, vor ihr geheim gehalten hatte). Alles.
»Ich dürfte dich nicht mit all dem belasten.«
Penelope sagte: »Na ja, wahrscheinlich nicht.« Fügte aber standhaft hinzu: »Ich verzeihe dir. Ich bin ja kein kleines Kind mehr.«
Juliet kehrte in die Welt zurück. Der Anfall, den sie an der Bushaltestelle erlitten hatte, wiederholte sich, aber nie mehr mit solcher Wucht.
Durch ihre Recherchen in der Bibliothek lernte sie einige Mitarbeiter vom Provincial TelevisionSender kennen und nahm eine Stellung an, die sie ihr anboten. Sie hatte dort ungefähr ein Jahr lang gearbeitet, als sie anfing, Interviews zu machen. All ihr jahrelanges wahlloses Lesen (das Ailo so missbilligt hatte, in der Zeit in Whale Bay), all die vielfältigen Informationen, die sie aufgeschnappt hatte, all ihr unbegrenzter Appetit und ihre rasche Auffassungsgabe kamen ihr jetzt zugute. Sie eignete sich ein selbstironisches, leicht provozierendes Auftreten an, das meistens gut anzukommen schien. Vor laufender Kamera konnte sie kaum etwas aus der Fassung bringen. Obwohl sie zu Hause auf und ab marschierte und Jammerlaute oder Flüche ausstieß, während sie sich eine Pause oder Unsicherheit oder, schlimmer noch, einen Versprecher in Erinnerung rief.
*
Nach fünf Jahren hörten die Geburtstagskarten auf.
»Das hat nichts zu bedeuten«, sagte Christa. »Sie sollten dir nur zu verstehen geben, dass sie irgendwo am Leben ist. Jetzt meint sie, dass du es begriffen hast. Sie vertraut darauf, dass du keinen Spürhund auf sie hetzt. Weiter nichts.«
»Habe ich ihr zu viel aufgebürdet?«
»Ach, Jul.«
»Ich meine nicht nur Erics Tod. Andere Männer, später. Ich habe sie zu viel Kummer sehen lassen. Meinen blöden Kummer.«
Denn Juliet hatte in den Jahren, in denen Penelope zwischen vierzehn und einundzwanzig gewesen war, zwei Affären gehabt, bei beiden hatte sie es fertiggebracht, sich Hals über Kopf zu verlieben, auch wenn sie sich hinterher dafür schämte. Einer der Männer war wesentlich älter als sie und fest verheiratet. Der andere war ein ganzes Stück jünger und von ihren hitzigen Gefühlen verschreckt. Hinterher wunderte sie sich selbst darüber. Ihr hatte eigentlich gar nicht viel an ihm gelegen, sagte sie.
»Ich glaube eigentlich nicht«, sagte Christa, die müde war. »Ich weiß es nicht.«
»Ach, verdammt. Ich war so was von dumm. So stelle ich mich doch mit Männern nicht mehr an, oder?«
Christa äußerte nicht, dass es an mangelnden Kandidaten liegen mochte.
»Nein, Jul. Nein.«
»Eigentlich habe ich nichts Schreckliches getan«, sagte Juliet darauf, schon zuversichtlicher. »Warum jammere ich immer, es sei meine Schuld? Sie ist eben ein Rätsel, das ist alles. Das muss ich begreifen.
Ein Rätsel und ein kalter Fisch«, sagte sie mit ironischer Entschiedenheit.
»Nein«, sagte Christa.
»Nein«, sagte Juliet. »Nein – das ist nicht wahr.«
Nachdem der zweite Monat Juni ohne ein Wort vergangen war, beschloss Juliet umzuziehen. In den ersten fünf Jahren, vertraute sie Christa an, hatte sie auf den Juni gewartet, gespannt, was kommen würde. Inzwischen war sie jeden Tag gespannt. Und wurde jeden Tag enttäuscht.
Sie zog in ein Hochhaus im West End. Sie hatte sich vorgenommen, alles, was sich in Penelopes Zimmer befand, wegzuwerfen, aber am Ende stopfte sie alles in Müllsäcke und nahm es mit. In der neuen Wohnung gab es nur ein Schlafzimmer, aber genug Abstellraum im Keller.
Sie gewöhnte sich an, im Stanley Park joggen zu gehen. Sie sprach jetzt selten von Penelope, selbst Christa gegenüber. Sie legte sich einen Freund zu, der noch nie etwas von ihrer Tochter gehört hatte.
Christa wurde dünner und launischer. Ganz plötzlich, in einem Januar, starb sie.
*
Man erscheint nicht ewig im Fernsehen. Wie gut den Zuschauern auch ein Gesicht gefällt, es kommt eine Zeit, da möchten sie lieber ein anderes sehen. Juliet wurden andere Arbeiten angeboten – Recherchen, das Schreiben von Off-Kommentaren für Naturfilme –, aber sie lehnte alles fröhlich ab und behauptete von
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