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Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Stühle aus Leichtmetall mit kastanienbraunen Plastiksitzen. Wegen der heruntergezogenen Decke mussten die Fenster zu flachen Rechtecken verkleinert werden. Eine Leuchtreklame in einem davon warb für den WELCOME COFFEE SHOP .
    Der Besitzer, ein gewisser Mr. Palagian, lächelte nie und verschwendete an niemanden ein überflüssiges Wort, sehr im Widerspruch zur Leuchtreklame.
    Trotzdem füllte sich der Coffee Shop zur Mittagszeit und am späteren Nachmittag mit Gästen. Die Gäste waren Schüler der High School, hauptsächlich aus der neunten bis elften Klasse. Auch einige der älteren Schüler aus der Grundschule. Das Reizvolle an dem Ort war, dass alle dort rauchen durften. Nicht, dass man Zigaretten kaufen konnte, wenn man aussah, als sei man unter sechzehn. Da war Mr. Palagian strikt.
Du nicht
, sagte er dann, mit seiner schweren, griesgrämigen Stimme.
Du nicht
.
    Inzwischen hatte er eine Frau eingestellt, die ihm zur Hand ging, und wenn jemand, der zu jung war, versuchte, bei ihr Zigaretten zu kaufen, dann lachte sie.
    »Wen willst du auf den Arm nehmen, Kleiner?«
    Aber jemand, der sechzehn oder älter war, konnte das Geld von den Jüngeren einsammeln und ein Dutzend Schachteln kaufen.
    Gesetzestreue, sagte Harry.
    Harry gewöhnte sich ab, mittags dort zu essen – es war zu laut –, aber er ging immer noch zum Frühstück hin. Er hatte die Hoffnung, dass Mr. Palagian eines Tages auftauen und ihm seine Lebensgeschichte erzählen würde. Harry führte einen Ordner mit Ideen für Bücher und war ständig auf der Suche nach Lebensgeschichten. Jemand wie Mr. Palagian – oder sogar diese dicke, schlagfertige Kellnerin, sagte er – konnte eine zeitgenössische Tragödie hinter sich haben, etwas Abenteuerliches, aus dem sich ein Bestseller machen ließ.
    Das Wichtigste im Leben, hatte Harry zu Lauren gesagt, sei, die Welt, in der man lebte, interessant zu finden. Die Augen offenzuhalten und in jedem, dem man begegnete, alle Möglichkeiten – die ganze Menschheit – zu sehen. Wach zu sein. Wenn es irgendetwas gab, was er ihr beibringen konnte, dann das.
Sei wach
.
    *
    Lauren bereitete sich das Frühstück selbst zu, meistens Cornflakes mit Ahornsirup statt Milch. Eileen legte sich mit ihrem Kaffee wieder ins Bett und trank ihn langsam. Sie mochte nicht reden. Sie musste sich für den Tag in Gang bringen, für die Arbeit im Zeitungsbüro. Wenn sie sich munter genug fühlte – manchmal erst, nachdem Lauren bereits zur Schule gegangen war –, stand sie auf, ging unter die Dusche und zog sich etwas an, was ihrem Stil entsprach – lässig und aufreizend. Da der Herbst seinen Fortgang nahm, war das meistens ein unförmiger Pullover über einem kurzen Lederrock und grellfarbenen Strumpfhosen. Wie Mr. Palagian gelang es Eileen mühelos, anders auszusehen als alle übrigen in der Stadt, aber im Gegensatz zu ihm war sie schön, mit den kurz geschnittenen schwarzen Haaren und den dünnen goldenen Ohrringen wie Ausrufungszeichen und den blasslila Lidschatten. Ihr Auftreten im Zeitungsbüro war forsch und ihre Miene distanziert, sie setzte jedoch häufig ein strategisches, lebhaftes Lächeln auf.
    Sie hatten ein Haus am Rande der Stadt gemietet. Gleich hinter ihrem Grundstück begann eine Bilderbuchwildnis mit felsigen Buckeln und Granithängen, kleinen Seen und einem Waldstreifen aus Pappeln, Silberahorn, Lärchen und Fichten. Harry liebte das. Er sagte, es konnte sein, dass sie eines Morgens aufwachten und in ihrem Garten einen Elch sahen. Wenn Lauren von der Schule nach Hause kam, stand die Sonne schon tief am Himmel, und die mäßige Wärme des Herbsttages stellte sich als Betrug heraus. Das Haus war kühl und roch nach dem Essen vom Vorabend, nach altem Kaffeesatz und dem Müll, den hinauszutragen ihre Aufgabe war. Harry legte einen Komposthaufen an – im nächsten Jahr sollte ein Gemüsegarten dazukommen. Lauren trug den Eimer mit Schalen, Apfelgehäusen, Kaffeesatz und Speiseresten hinaus zum Rand des Waldes, aus dem ein Elch oder ein Bär auftauchen konnte. Das Laub der Pappeln war gelb geworden, die Lärchen hielten ihre verfilzten orangeroten Stacheln hoch gegen die dunklen Nadelbäume. Sie schüttete den Müll aus und schaufelte Erde und Rasenmahd darüber, wie Harry es ihr gezeigt hatte.
    Ihr Leben war jetzt sehr anders als noch vor ein paar Wochen. Da war sie mit Harry und Eileen an den heißen Nachmittagen zum Baden an einen der Seen gefahren. Später am Abend war sie dann mit Harry auf

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