Tricontium (German Edition)
nehmen.
Oda hatte diesen Auftrag anscheinend für wichtig genug befunden, ihn selbst mit auszuführen, und trat nun mit einem immerhin noch oberflächlich höflichen Neigen des Kopfes auf die Richterin zu. »Frau Herrad, Richterin der Tricontinischen Mark? Ich muss Euch bitten, mir zu folgen. Man erwartet Euch auf der Burg.«
Die Krieger hatten einen Kreis um sie beide geschlossen, während ihre Befehlshaberin gesprochen hatte. Herrad warf einen unauffälligen Blick zum Haus zurück, um festzustellen, ob Paulinus etwas von den Vorgängen auf der Straße mitbekam, doch es war nicht zu erkennen, ob er hinter einem der Fenster stand. »Sprecht Ihr eine Einladung aus, Frau Oda, oder seid Ihr gehalten, mich festzunehmen?«
»Man erwartet Euch auf der Burg«, wiederholte Oda mit Nachdruck, als sei damit die Frage beantwortet, fand sich aber dann bereit, hinzuzufügen: »Ihr solltet keine Pläne für den Abend machen.«
Die Burg von Aquae Calicis war nicht das, was man an anderen Orten unter einer Burg verstanden hätte, sondern eine eindrucksvolle, wenngleich planlose Ansammlung von Gebäuden, die das Innere des alten Amphitheaters aus römischen Tagen gleichsam überwuchert hatten. Die äußeren Bögen des Theaters waren nur teilweise zugemauert worden; in manchen hatten alle bisherigen Vögte von Aquae Läden und Lagerhäuser geduldet und die Weinschenke gleich links des Tores hätte wohl nur jemand schließen lassen, der bereit war, einen Aufruhr der eigenen Krieger in Kauf zu nehmen.
Herrad hatte sich nie recht vorstellen können, wie man diese Burg geordnet und auf lange Sicht verteidigen sollte, wenn je ein Feind die Stadtmauern überwand. Allerdings hätte sie auch nicht der Eroberer sein mögen, der sich in das verwinkelte Gewirr aus Höfen und schmalen Durchgängen jenseits des Tores wagen musste. Doch auch wenn man keine Feinde zu fürchten hatte, war die Burg kein sicherer Ort. Es hieß, dass in den dunklen Zellen tief unten noch die Geister der Gladiatoren umgingen, die vor Hunderten von Jahren im Rund des Theaters gestorben waren. Zudem konnte man sich leicht verlaufen und – wie Herrads Vater ihr vor langer Zeit warnend verkündet hatte – im schlimmsten Fall ganz und gar verloren gehen. Das hatte nicht nach einer vergnüglichen Aussicht geklungen und so hatte Herrad zwischen ihrem siebten und siebzehnten Jahr viel Zeit damit verbracht, die Burg so gut zu erforschen, dass sie sich heute zutraute, zur Not auch aus dem entlegensten Winkel wieder zum Tor zu finden. Falls man sie aber allen Ernstes hinter Schloss und Riegel zu setzen gedachte, würde ihr bloße Ortskenntnis nur bedingt weiterhelfen.
Der Weg, den ihre freundlichen Begleiter mit ihr nahmen, verriet noch nichts weiter über ihre Absichten. Den vorderen Hof, auf dem einige der Krieger Asgrims herumlungerten, musste man in jedem Fall überqueren, und der breite Torbogen zur Rechten, auf den Oda zuhielt, führte vor allem zu den Wirtschaftsgebäuden.
Erst nach einer vollkommen überflüssigen halben Umrundung der Pferdeställe und einem ebenso sinnlos scheinenden Abstecher in den zwischen hohen Mauern eingezwängten Kräutergarten wurde Herrad bewusst, dass ihre Bewacher davon ausgingen, sie verwirren zu können. Man musste es Oda wohl lassen, dass sie den halben Tag, den sie allenfalls gehabt hatte, um sich umzusehen, gut genutzt hatte, denn einige ermüdende Treppen später hatte sie Herrad langsam, aber sicher in den Teil der Burg geführt, in dem sich nicht nur die Räume befanden, in denen Ebbo und Asgrim warten mochten, sondern auch der Zugang zu der ausgedehnten Unterwelt aus Kerkern und ungenutzten Gewölben.
Wenn es dorthin gehen sollte, gedachte man der Richterin wohl noch eine Gnadenfrist zuzugestehen, denn als Oda schließlich ihren Kriegern mit einer herrischen Geste bedeutete, anzuhalten, standen sie vor einem Hintereingang des großen Saals. Die alte Kriegerin öffnete die Tür und nickte Herrad zu, hindurchzugehen. »Wartet dort; man wird Euch rufen.«
»Gut«, sagte Herrad und ging, ohne sich von dem Geräusch des Riegels, der hinter ihr vorgelegt wurde, zu sehr beeindrucken zu lassen.
Wer auch immer die Anweisung gegeben hatte, sie hierher bringen zu lassen, hatte damit gerechnet, dass es beunruhigend sein würde, nach einem langen, beschwerlichen Weg unter strenger Bewachung allein und verloren in der Leere und Kälte unter dem gemalten Sternenhimmel der hölzernen Decke zu stehen. Bei jemandem, der den Saal mehr als
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