Tricontium (German Edition)
dunklen Tuniken, die er gewöhnlich bevorzugte, gesehen hatte, reizte sie ohne guten Grund zum Lachen. »Ich bin froh, dass Ihr heil und gesund zurück seid«, begann sie und vermerkte mit Befriedigung, dass Oshelms Verbeugung allein auf sie ausgerichtet war. Dies war noch immer ihr Schreiber, und sie würde die Fragen stellen. »Wie steht es um den Gefangenen in Mons Arbuini?«
Als sie eine gute Stunde später nach einigen wohlgesetzten Abschiedsworten die Treppe in einen der inneren Burghöfe hinunterstieg, war genug besprochen, um die Welt so geordnet, durchschaubar und sicher erscheinen zu lassen wie seit ihrem Aufbruch nach Tricontium nicht mehr. Es mochte eine trügerische Sicherheit sein, eher ein Tanz über einzelne Steine in unruhigem Wasser als ein Gang über eine fest gemauerte Brücke, doch mittlerweile hatte sie wieder das Gefühl, dass es ein erreichbares Ufer gab.
Sie würde gleich noch zum Hochgericht hinübergehen; Oshelm hatte sie bereits mit einigen Anweisungen an ihre Leute vorausgesandt. Sie würde wieder einen Richterstab in der Hand halten und, ganz gleich was kam, mindestens für einige Wochen dazu beitragen, dass Aquae nicht vollends in Unordnung geriet. Die Stadt würde sich, so Gott wollte, über den nächsten Monat so gut halten, dass man die selbsternannten Amtsträger ohne viel Aufsehen bestätigen würde. Bis dahin würde Otachar wohl durchhalten, auch wenn Oshelm etwas zweifelnd geklungen hatte.
»Er ist krank«, hatte er gesagt, »wie viele, die länger dort sind. Aber vier, fünf Wochen mehr wird er schon überstehen.«
Einzelheiten hatte er nicht erwähnt, und das hatte Herrad hellhörig werden lassen. Sie vermutete fast, dass er nicht aus erster Hand wusste, wie es um seinen ehemaligen Herrn stand, doch sie hatte keine Zeit gehabt, mehr darüber herauszufinden. Ihr vorläufiges Amt hatte nun Vorrang. Ein wenig reuevoll dachte sie daran, dass sie Magister Paulinus noch vor wenigen Stunden große Reden gehalten hatte, sich nie und nimmer mit Männern wie Asgrim und Ebbo verbünden zu wollen. Doch wenn aus einem wenig vertrauenswürdigen Grafen von Corvisium unerwartet ein angehender Vogt von Aquae wurde, tat man wohl doch gut daran, sich auf das zu besinnen, was gemeinhin als Vernunft galt, und die eigenen Vorstellungen davon hintanzustellen. Stolz war sie nicht auf sich, doch schämte sie sich auch nicht so sehr, wie sie es vielleicht hätte tun sollen. Was getan war, war getan; nun konnte sie nur noch Vorbereitungen für den nächsten Gerichtstag treffen und eine Grabrede auf einen Mann schreiben, vor dessen Ankunft in Aquae Calicis das Leben dort angenehmer gewesen war.
Wulfila hatte ihr nachdenkliches Schweigen bisher geduldig ertragen. »Irgendwann müsst Ihr mir erzählen, wie ihr das mit dem Raben angestellt habt«, sagte er nun und warf einen flüchtigen Blick nach oben, als erwarte er, den Vogel noch in der Luft zu sehen.
Herrad hätte es bevorzugt, nicht auch noch über diesen Vorfall lange nachgrübeln zu müssen. »Das weiß ich selbst nicht«, gestand sie und beschleunigte ihre Schritte, um rasch den engen, dunklen Gang, der in den vorderen Hof hinüberführte, hinter sich zu lassen. »Er ist ohne mein Zutun gekommen. Vielleicht war es wirklich der Rabenkönig, wie der Zauberer gesagt hat.«
»Wer genau ist dieser Rabenkönig eigentlich?« Er schien es wirklich nicht zu wissen, doch Herrad war nur kurz darüber erstaunt. Die Eltern seines Vaters waren von weither nach Corvisium gekommen und vielleicht stammte auch die Familie seiner Mutter nicht aus dem Norden; anderswo erzählte man diese Geschichte sicher nicht.
»Das wird Euch gefallen«, sagte sie mit einem halben Lächeln, als sie in den äußeren Hof traten. »Es ist fast so gut wie ein sprechender Troll. Der Rabenkönig ist ein sehr alter, sehr weiser Rabe und lebt entweder im Kranichwald oder im großen Nordwald, vielleicht auch in irgendeinem alten Gemäuer in Aquae; so genau weiß man das nicht. Dafür kennt man aber seine Herkunft. Man sagt, dass die alten Götter dieser Gegend sich mit denen der Römer eigentlich ganz gut verstanden. Doch dann kam das Christentum hierher, einmal noch zu Römerzeiten und dann endgültig nach dem Fall des römischen Reichs. Da viele Leute vom Schlage Bischof Alberichs unter denen waren, die den neuen Glauben verbreiteten, fühlten sich die alten Götter nicht mehr wohl in Aquae und zogen weiter nach Norden, um jenseits der Grenze zu wohnen, wo man sie noch verehrt.
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