Tricontium (German Edition)
Aber als sie gingen, blieb einer ihrer Raben zurück, und da er ein göttlicher Rabe war und Zauberkräfte hatte, machten die gewöhnlichen Raben ihn zu ihrem König. Nun lauschen sie jeden Tag für ihn, ob jemand hier den alten Göttern noch etwas mitzuteilen hat. Wenn ja, dann sagen sie es ihm und er fliegt hoch in die Luft und trägt alle Gebete dorthin, wo die alten Götter heute wohnen, damit ihre Getreuen hier nicht ganz auf ihren Beistand verzichten müssen. Manchmal aber ist der lange Weg zu weit und er muss selbst Schutz und Hilfe gewähren, bis einer der Götter herbeigeeilt ist. So sagt man.«
Wulfila stolperte zum Lohn dafür, dass er Herrad bis über das Ende ihrer Erzählung hinaus von der Seite angesehen hatte, fast über eine Unebenheit im Pflaster unter dem äußeren Burgtor. »Habt Ihr denn irgendwann einmal die alten Götter verehrt?«
Herrad schob die Hände unter ihren Mantel, um sie zu wärmen. »Nein. Das ist ja das Eigenartige. Was meint Ihr, sollte ich Glaubenszweifel haben?«
»Nein.« Wulfila lächelte und strich sich eine Haarsträhne, die ihm bis über die Nase gefallen war, aus der Stirn. Das war schade; er hatte so eigentlich sehr niedlich ausgesehen. »Vielleicht war es doch nur ein gewöhnlicher Rabe. Wenn nicht, dann kommt er entweder von Gott und macht sich einen Aberglauben zunutze, oder aber die alten Götter haben ihn wirklich geschickt. In dem Fall mögen sie Euch wohl, obwohl Ihr ihnen keine blutigen Opfer gönnt. Irgendeine höhere Macht ist Euch freundlich gesonnen und das ist doch schön.«
Vielleicht war es ein halber Scherz, aber Wulfila sah dennoch aus, als ob es ihn aufrichtig freute, sich Herrad als ganz besonders vom Glück begünstigt vorstellen zu können.
Die Richterin wünschte nur, sie hätte selbst glauben können, dass die Welt es so gut mit ihr meinte. »Sagt mir das in Zukunft, wenn ich schlecht gelaunt bin. Vielleicht hilft es ja.«
Sie bog in die kleine Straße ein, die unweit der Bischofskirche den Cardo kreuzte und auf recht geradem Wege zum Hochgericht führte.
Wulfila folgte ihr. »Gleich zu Eurem neuen Gericht, und nicht erst für einen Augenblick nach Hause, nach dem Tag?«
»Nein.« Herrad gestattete sich nur kurz, sich einen ruhigen Abend mit einem wärmenden Feuer, heißem Tee und ihrer weichen blauen Decke auszumalen. »Wenn ich erst dort wäre, würde ich heute nicht wieder aufstehen, und es gibt noch viel zu tun. Oshelm wird die anderen schon einsammeln, und wenn das geschehen ist, werden wir an die Arbeit gehen! – Außerdem tue ich wohl gut daran, mich so schnell wie nur möglich an dieses fürchterliche Gebäude zu gewöhnen. Wie mein Gericht wird es sich nämlich nicht anfühlen. Meins ist das Niedergericht, und ich hätte es sehr gern behalten.«
Sie dachte mit Wehmut an das langgestreckte Haus hinter der alten Linde, den Saal, in dessen Deckenbalken Feuerkobolde wohnten, das überschaubare Schreibzimmer und sogar an die drei Zellen, die Missetäter jeweils bis zum nächsten Gerichtstag aufnahmen. Das alles war gut, brauchbar und von vernünftiger Größe, aber nun war es das Reich des gewiss nicht sehr dankbaren Honorius, während für sie nur die graue Abscheulichkeit blieb, in der man so gut wie immer fror und sich nie anders als beklommen fühlte.
»Ich bin dennoch ganz froh, dass wir nicht zum Niedergericht gehen«, sagte Wulfila. »Dorthin wäre ich nicht gern mitgekommen, so verdient es beim letzten Mal auch war. Und verdient war es. Warum habt Ihr Asgrim und Ebbo über mich belogen?«
Herrad schob mit der Fußspitze einen Zweig beiseite, den man ebenso wenig von der Straße entfernt hatte wie das reichlich gefallene Laub. »Ich habe sie nicht belogen. Ich habe einiges ausgelassen und wahrscheinlich haben sie deshalb falsche Schlüsse gezogen, aber gelogen habe ich nicht.«
»Nun gut, gelogen habt Ihr nicht«, räumte Wulfila gutwillig ein. »Aber warum habt Ihr ihnen die Wahrheit verkürzt dargestellt?«
»Ihr sollt von ihnen nicht schlecht behandelt werden. Sie haben selbst schon mehr verbrochen, als nur Hühner zu stehlen.«
»Das ist kein Grund.«
»Nein?« Herrad blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Dann gebe ich Euch einen besseren.«
Bevor ihr Mut sie verlassen konnte, vergrub sie eine Hand in Wulfilas Haar, das sich ohnehin schon etwas in Unordnung befand, und küsste ihn.
Zuerst fürchtete sie, etwas sehr falsch gemacht zu haben. Wulfila stand starr wie ein Stück Holz und sah sie zwar nicht unbedingt
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