Tricontium (German Edition)
gehabt, wenn nicht aus eigener Erfahrung, dann doch von Verwandten und Freunden.
Nur die Geschichten waren geblieben, als die Nomaden nach Terguris Tod zurück in den Osten geströmt waren, und in diese Geschichten gehörten sie auch, Schreckgespenster, die Herrn Bernwards ältere Geschwister im Kampf getötet und seinen jüngsten Bruder verschleppt hatten, ferne Schreckgespenster aus Wulfilas Sicht, die aus der Zeit vor seiner Geburt stammten. Gewiss, die Barsakhanen waren etwas anderes als die Ungeheuer aus den alten Liedern. Einzelne waren auf die ein oder andere Weise in den Ländern des Westens hängen geblieben, gefangen, als Söldner, durch Heirat oder schlicht durch Zufall, und nicht zu fern der Grenze streiften wohl noch einige kleinere Stämme durchs Heidenland, doch niemand hatte geglaubt, dass eine große Flut wie die damalige wiederkehren würde, nicht nach dem Tode Terguris, der als einziger genug Einfluss auf die zerstrittenen, stolzen Häuptlinge gehabt hatte, um sie zum Zusammenhalten zu bewegen. Doch nun waren Barsakhanenreiter dort unten, gewiss über fünfzig an der Zahl, und sie sahen nicht nach einer bloßen Räuberbande aus.
Hätte Wulfila den großartigen, unfehlbaren Plan, der seinen Vater, seinen Sohn und ihn selbst so lange hier oben im Norden festgehalten hatte, nicht schon im Turm auf dem Brandhorst verflucht, wäre er spätestens jetzt zu der Auffassung gelangt, dass es ein Fehler gewesen war, auf Wulf zu hören. In der verzweifelten Lage, in die sie durch den unerfreulichen Vorfall in Corvisium geraten waren, hatte das Vorhaben sich als gangbarer Ausweg angeboten, und die Hoffnung darauf, gut über den Winter zu kommen und im Frühjahr noch über die Mittel zu verfügen, irgendwo in der Ferne, in Neustrien oder in der Sapaudia, ein besseres Leben zu beginnen, war verlockender gewesen als jede vernünftige Überlegung. Zudem konnte Wulf selbst den größten Unsinn überzeugend klingen lassen, wenn er ihn sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.
»Es wird ganz einfach sein«, hatte er behauptet, während er seinem Sohn in der verlassenen Einsiedelei, in der sie Unterschlupf gefunden hatten, eine Mischung aus Wein und Kräutersud zu trinken gegeben hatte, die wahrscheinlich nur dann als Schmerzmittel wirkte, wenn man fest daran glaubte. »Du kannst dich eine Weile hier ausruhen, während ich nach Bocernae gehe. Wir haben lange genug gewartet. Nach sieben Jahren wird wohl kaum noch einer im alten Kloster auf der Lauer liegen, um zu sehen, ob sich jemand an dem Versteck zu schaffen macht. Schlimmstenfalls finde ich es ausgenommen vor, aber was soll schon geschehen?«
Ja, was sollte schon geschehen, wenn man der Einschätzung eines Mannes traute, über den es in den Liedern des letzten Krieges in sinniger Anspielung auf seinen Namen geheißen hatte, er sei gefährlich wie ein tollwütiger Wolf und ungefähr ebenso gut bei Trost?
Das war kein sehr freundlicher Gedanke, und Wulfila schämte sich schon dafür, bevor er ihn ganz zu Ende gedacht hatte. Sein Vater war für all die Widrigkeiten nicht verantwortlich und vielleicht war es am Ende doch gut, dass sie alle drei nach Tricontium gekommen waren. Wer sonst hätte der Richterin mit ihrem Kastanienhaar und ihren schönen, kühlen Händen von den Barsakhanen berichten sollen? Auf ihre Krieger konnte man sich anscheinend nicht verlassen.
Auch der Wunsch, sich als nützlicher zu erweisen als diese armseligen Gestalten, hielt Wulfila davon ab, seiner ersten Regung zu folgen und unverzüglich nach Tricontium zurückzukehren. Er hatte noch nicht genug in Erfahrung gebracht, und wohin eine unüberlegte Flucht, die allein auf Schnelligkeit abzielte, führen konnte, hatte ihm der Kürbisdiebstahl nur zu deutlich gezeigt. Ein guter Kundschafter machte ruhig seine Beobachtungen und geriet gefälligst erst dann in namenlose Angst, wenn er gesehen hatte, was zu sehen war – und wenn er es recht bedachte, war das Bild, das sich ihm bot, bei eingehender Betrachtung seltsamer, als er es zunächst hatte bemerken wollen.
Der Turm und die umgebenden Gebäude waren nahe am Ufer eines kleinen Sees errichtet worden, der irgendwann einmal den längst verlandeten kleinen Graben, der die winzige Siedlung hatte schützen sollen, gespeist haben musste; vereinzelt standen auch Hütten und Häuser zwischen dem See und dem Wald, in dem Wulfila sich befand, und weiter nordöstlich zwischen verstreut gelegenen Feldern. Nirgendwo aber war außer den Barsakhanen auch nur
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