Tricontium (German Edition)
ein einziger Mensch zu sehen, weder ein lebender noch ein toter, und die Anzahl der mageren Kühe und Ziegen, die einige der Krieger bei einem nahen Schafstall zusammengetrieben hatten, war selbst für diese entlegene Gegend erstaunlich gering. Wer auch immer außer Honorius hier gelebt hatte, war früh genug gewarnt gewesen, um nicht nur fliehen, sondern auch noch das meiste Vieh mitnehmen zu können.
Noch weit eigenartiger war aber das Verhalten der Barsakhanen selbst. Zwar hatten sie offensichtlich genommen, was sie brauchen konnten, aber statt sich nun zurückzuziehen, schienen sie damit befasst zu sein, sich für die Nacht einzurichten. Dabei waren sie ungewöhnlich ruhig für Leute, die vorhin erst einen fremden Späher außer Gefecht gesetzt haben mussten, ganz so, als wüssten sie, dass ihnen keinerlei Gefahr drohte. Zwei Bogenschützen behielten von einer grasbewachsenen Anhöhe aus den sandigen Pfad im Auge, der in den Wald und nach Tricontium hinüber führte, doch sie lachten und plauderten unbefangen. Offensichtlich nahmen sie ihre Aufgabe nicht so ernst wie die Reiter, die im Nordosten schattengleich über die Wiesen flogen und jede unbemerkte Annäherung aus Richtung der offenen Ebene unmöglich machten.
Wulfila hätte gern die Wortfetzen verstanden, die von weitem zu ihm herüberdrangen, doch die Sprache, in der sich die beiden Männer unterhielten, hatte er nie gelernt. Vor Jahren hatte ihm Ardeija, dessen gelehrsame Ader nicht sehr ausgeprägt war, zwar die Lieder, die er damals gelegentlich gesungen hatte, übersetzt, doch nicht sehr kunstvoll und ohne weitere Erklärungen. Wulfila konnte folglich nur mit Bestimmtheit sagen, dass die Wortfolge »Siegreich ist Tergeli, Herr über tausend Zelte« – der einzige Vers, auf den er sich noch besinnen konnte – in dem Gespräch keine Rolle spielte und das stellte nun wahrhaftig keine Grundlage für ein tiefergehendes Verständnis dar. Doch Ardeija, der hätte helfen können, saß vermutlich weiterhin sicher verwahrt in Asgrims Kerker. Sein Drache, der es sich auf Wulfilas Schulter bequem gemacht hatte und sich gerade ausgiebig mit der rechten Hintertatze den Zackenkamm auf seinem Rücken kratzte, konnte wohl kaum als Übersetzer dienen.
Immerhin schien Gjukis mangelnde Besorgnis Wulfilas Annahme zu bestätigen, dass sich keine Späher der Reiterkrieger im Wald befanden; der kleine Drache hätte es gewiss eher als jeder Mensch bemerkt, hätte sich jemand heimlich zu nähern versucht. Nein – niemand war hier und dieselben Barsakhanen, die sich offensichtlich durchaus die Mühe gemacht hatten, Wigbold oder seinen Leichnam mitzunehmen, waren nachlässig genug gewesen, sein Pferd fortlaufen zu lassen und dann noch nicht einmal Kundschafter auszuschicken. Sie mussten sich wirklich sicher fühlen, sicherer, als es ungebetenen Gästen von ihrer Art anstand. Wer waren sie, dass sie anscheinend weder einen Angriff noch Entdeckung fürchteten? Nach einem Feldzeichen, das darüber hätte Aufschluss geben können, hielt Wulfila zunächst vergeblich Ausschau.
Im Grunde hätte es in diesem Fall wohl genügt, schlicht die Anwesenheit der Barsakhanen zu melden, da Frau Herrad sich nicht gerade auf einem Feldzug befand, doch alte Gewohnheiten ließen sich schlecht ablegen und ein brauchbarer Bericht musste mehr enthalten als nur einen vagen Verweis auf irgendwelche Krieger aus der Steppe.
Diese Gedanken kamen Wulfila allerdings erst, als er sich längst auf den Weg gemacht hatte, um näher an den Feind heranzukommen. Er hatte kaum eine bewusste Entscheidung treffen müssen, um zu tun, was zu tun war; alles Erforderliche war noch immer so vertraut, als wäre seit Bocernae keine nennenswerte Zeit vergangen.
Zugegebenermaßen konnte einiges, was einen fähigen Späher auszeichnete, auch einem Dieb von Nutzen sein und war deshalb über die Jahre aus reiner Notwendigkeit in Gebrauch geblieben. Sich das einzugestehen, hätte allerdings Wulfilas ohnehin angeschlagenen Stolz zu sehr verletzt, als dass er sich näher damit hätte befassen wollen, während er zwischen Weißdornsträuchern den besten Weg hangabwärts suchte und sich bemühte, nicht auf Gjukis Schnauze zu achten, die sich mittlerweile an seinem Kragen zu schaffen machte. Er wollte lieber glauben, dass er tat, worauf er sich verstand, und dass alles war, wie es sein sollte, auch wenn in Tricontium nur eine arme Richterin mit wenigen Getreuen auf Nachricht wartete und nicht Herr Bernward mit einem ganzen
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