Trieb
Schlange winkten seine Finger – wie zum Abschied.
Voller Abscheu kraxelte Sackowitz die Mauer entlang zurück zum Baum und hangelte sich ohne große Komplikationen an den Ästen hinab zu Boden. Dann rannte er wie von Sinnen auf die Straße.
117
Jessy und ihr Freund Leif warteten gemeinsam im Flur vor dem Krankenzimmer. Kalkbrenner beschloss, dies als ein gutes Zeichen zu werten. Aber als er einen Blick auf seine Armbanduhr warf, stellte er fest, dass es deutlich zu früh für die Visite war. »Wie geht es Oma?«, fragte er deshalb etwas bange.
Seine Tochter umarmte ihn zur Begrüßung. »Sie wird gerade geröntgt.«
»Hat sich der Arzt noch nicht geäußert?«
»Nein. Aber wir haben Oma gesprochen, kurz bevor sie zum Röntgen gebracht wurde.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Sie sagte: ›Jessy, du kannst schon laufen? Weiß dein Vater das?‹«
Wenn Käthe Maria sich noch artikulieren und klar denken konnte – was immer
klar denken
in ihrem dementen Zustand bedeutete –, dann schien es nicht allzu schlimm um sie zu stehen. Zumindest versuchte Kalkbrenner, sich das einzureden. Seufzend ließ er sich neben dem Freund seiner Tochter auf einem der Besucherstühle nieder. »Und, Leif, wie geht es dir?«
»Mir geht es gut, danke.«
»Hast du inzwischen einen Job gefunden?«
Seit dem Sommer, in dem er Sozialstunden hatte ableisten müssen, suchte Leif eine Anstellung, in Berlin kein leichtes Unterfangen. Verlegen zupfte er sich am Hemdkragen. »Ich hatte was in Aussicht, aber nachdem wir …«
»Leif!«, fuhr Jessy mahnend dazwischen.
»Ach so«, sagte ihr Freund. Die einstmals struppigen Haare hatte er sich inzwischen schneiden lassen. Das und die lässige, weit geschnittene Jeans, in Verbindung mit einem schwarzen Hemd ein eher ungewohnter Anblick, ließen ihn älter und reifer wirken.
Unwillkürlich streifte Kalkbrenners Blick Jessys Bauch. »Nachdem ihr was?«
»Darüber reden wir später. Sieh mal, Paps, da kommt Oma.«
Ein Pfleger rollte das Krankenbett ins Zimmer. Im Schlaf wirkte Käthe Maria unverändert: blass, dürr und ausgelaugt. Nur ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, so als wäre nichts passiert.
Leise Hoffnung keimte in Kalkbrenner auf. »Was ist geschehen?«, fragte er den Stationsarzt.
»Ihre Mutter hat das Zimmer verlassen«, berichtete Dr. Pliska.
»Warum das denn?«
»Sie sagte, sie wolle nach Hause. In ihre Wohnung. Nach Kreuzberg.«
Kalkbrenner konnte nicht glauben, dass seine Mutter tatsächlich noch die Kraft gefunden hatte, aus dem Bett aufzustehen.
»Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie es raus in die Kälte geschafft hätte«, meinte Jessy.
Der Arzt rieb sich nachdenklich den Bart. Seine tiefen Augenringe ließen erahnen, dass schon eine lange Schicht hinter ihm lag. Für Kalkbrenner hatte er sehr viel gemein mit Polizisten, die einen Kindermörder jagten. »Dazu hätte sie am Portier vorbeigemusst. Der hätte sie mit Sicherheit aufgehalten. Aber so weit ist sie leider nicht gekommen.«
»Leider?«
»Ja, sie ist die Treppe zum Foyer hinuntergefallen und hat dabei eine Schenkelhalsfraktur erlitten. Sie braucht jetzt äußerste Bettruhe. Eine Schenkelhalsfraktur ist …«
»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Kalkbrenner eine Spur zu grob. »Ich weiß, was eine Schenkelhalsfraktur bedeutet.«
Was er nicht wusste, war, warum das Schicksal so ungnädig mit seiner Mutter umging. Warum setzte es immer noch einen drauf?
Noch mehr Schmerzen. Noch mehr Leid.
»Aber ich möchte gerne wissen, was eine Schenkelhalsfraktur ist«, sagte Jessy.
Der Arzt sah Kalkbrenner fragend an.
Soll ich es ihr sagen?
Der Ermittler nickte.
»Eine Schenkelhalsfraktur ist ein Knochenbruch in unmittelbarer Nähe des Hüftgelenks. Im Volksmund wird er oft als Oberschenkelhalsbruch bezeichnet, aber das ist ein weit verbreiteter Irrtum.«
»Aha«, machte Jessy verständnislos, der das medizinische Kauderwelsch keine Klarheit brachte.
Dr. Pliska wechselte einen neuerlichen Blick mit Kalkbrenner. Noch eine ermunternde Kopfbewegung.
Eine Hiobsbotschaft mehr oder weniger
,
das spielt heute auch keine Rolle mehr
.
»Bei jungen Menschen lässt sich so ein Bruch unkompliziert mit einem Metallimplantat beheben. Ältere Menschen dagegen weisen häufig schon eine so geringe Knochendichte auf, dass keine Chance auf Osteosynthese besteht. In diesem Fall benötigen die Patienten eine lange Bettruhe, damit der komplizierte Bruch verheilen kann. Unglücklicherweise werden bei einer
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