Trieb
stöckelte sie in ihr Büro zurück.
Lothar begutachtete Sackowitz’ Gerümpel. »Zwei oder drei Stunden?«
»Okay, war vielleicht ein wenig übertrieben«, gestand Sackowitz. Aber solange er keine Vorstellung davon hatte, was er als Nächstes unternehmen sollte, war er froh über jede Minute, die er in der Redaktion in Sicherheit war.
Aber was heißt hier schon Sicherheit?
Nachdem sich jemand unbehelligt an seinem Computer zu schaffen gemacht hatte, schien auch der Verlag kein Garant mehr für hundertprozentigen Schutz zu sein. Dennoch konnte er davon ausgehen, dass kein Mörder ihn inmitten einer Schar aufmerksamer Reporter meucheln würde.
Aus dem Archiv organisierte er drei Pappkartons. Schicht um Schicht trug er die Unterlagen von seinem Schreibtisch ab, wobei er keiner besonderen Logik folgte, sondern die Hefter und Zeitungen wahllos in die Kartons feuerte. Ab und zu hielt er inne und überflog einige seiner Notizen. Manche betrafen seine Recherchen der letzten Tage. Es waren keine ausformulierten Artikel, nur Gedankensplitter, die er vor dem Vergessen hatte bewahren wollen. Obwohl er sie genauer studierte, konnte er nichts entdecken, was ihm in seiner Situation weitergeholfen hätte. Trotzdem wurde das Gefühl, dass er etwas Entscheidendes übersah, immer stärker.
Irgendwann hielt er die erste Notiz in der Hand, die er in der Angelegenheit Schulze gemacht hatte. Sie bestand aus ganzen vier Wörtern:
Schulze: Schlaganfall? Oder Selbstmord?
Er hatte sie aufgeschrieben, nachdem ihm der anonyme Informant im Gerichtssaal Moabit aufgelauert hatte. Mit diesen zwei Fragen hatte das ganze Elend also seinen Lauf genommen. Er wollte den Zettel zerreißen, unterließ es aber. »Du bist immer noch Journalist!«, ermahnte er sich.
»Ich?«, fragte Lothar. »Noch nicht. Aber ich will es werden.«
Sackowitz schaute von dem Blatt Papier auf. Anscheinend hatte er seinen Gedanken laut ausgesprochen. »Bist du dir da sicher?«
»Ja, auf jeden Fall.« Der Praktikant nickte eifrig. »So wie du.«
Sackowitz lachte. »Lass das aber nicht deinen Onkel hören.«
»Warum?« Lothar rollte mit seinem Sessel ein Stück näher. Seine Stimme hatte schon wieder einen verschwörerischen Tonfall angenommen. »Was werfen Sie dir eigentlich vor?«
Sackowitz schüttelte den Kopf. Er wollte nicht darüber reden.
»Jetzt komm schon«, bedrängte ihn Lothar. »Du willst doch wohl nicht behaupten, dass sie dich entlassen haben, nur weil du mit einigen Informationen vor der Polizei geflüchtet bist. Ich meine, das ist nicht gerade nett und so, aber dafür gleich jemanden entlassen …?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Sondern?«
»Weil ich Journalist bin.«
»Das verstehe ich jetzt nicht.«
Ich auch nicht.
Aber trotzdem war es die Wahrheit. Er musste seinen Schreibtisch räumen, weil er Journalist war. Weil er dem Hinweis eines anonymen Informanten nachgegangen war – allen Bedenken und Maßregelungen zum Trotz. Okay, gelegentlich hatte er es mit den Recherchen ein wenig übertrieben, und manchmal hatte er gewisse Grenzen übertreten, aber, verdammt, das gehörte nun mal zum Job dazu. Nur so war es schließlich möglich, den Dreck zu enthüllen, den andere lieber unter den Teppich kehrten. Und diese Pornofilme waren definitiv mehr als das: Sie waren eine Riesensauerei.
Allein bei dem Gedanken, dass seinem Sohn oder seiner Tochter derartig Entsetzliches widerfahren könnte, wurde Sackowitz speiübel. Aber genau deshalb gab es für ihn keinen Grund, sein Handeln zu bedauern – auch wenn es dadurch jetzt um seinen eigenen Kopf ging. Es war seine Pflicht und sein innerstes Bedürfnis, diese Kinderschänder, Schulze, Fielmeister –
Nicht nur die. Noch viele mehr! –
an den öffentlichen Pranger zu stellen. Das war sein gottverdammter Job.
Er musste nur noch die letzten Zusammenhänge begreifen. Einiges war ihm inzwischen klar: beispielsweise, dass sich Staatssekretär Schulze entgegen allen Verlautbarungen tatsächlich umgebracht hatte. Aber die Gründe dafür lagen immer noch im Dunkeln.
Es gab einen anderen Toten
,
einige Monate zuvor. Er brachte die Ereignisse ins Rollen.
Oder war es möglich, dass …?
Ein weiteres Mosaiksteinchen fügte sich in das Gesamtbild, das vor Sackowitz’ geistigem Auge in diesen Minuten entstand: Bei den üblen Machenschaften dieser Männer war ein Kind gestorben. Vielleicht sogar umgebracht worden. War Schulze der Mörder gewesen? Oder hatte er den Mörder gekannt? Hatte er ihn der Polizei
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