Triestiner Morgen
auf dem Gemälde eines französischen Malers ähnlich sehen. Ich möchte mir meine Doppelgängerin zu gerne einmal ansehen, aber leider hängt sie in Paris, und da werde ich wohl so schnell nicht hinkommen.
Michele ist furchtbar gescheit, wenn er nicht gerade spinnt, wie gesagt. Aber so richtig irrsinnig kann er gar nicht sein, sonst würde er doch nicht studieren. Im ersten Jahr schaffte er acht Scheine in Kunstgeschichte, obwohl er kaum zum Lernen kam. Er steht fast den ganzen Tag im Laden. Ich frage mich wirklich, wann er lernt. Der Kosic läßt ihn zwar umsonst bei sich wohnen und sorgt für ihn wie für einen Sohn, aber arbeiten muß er trotzdem, da kennt er kein Pardon.
Enrico zählt übrigens zu seinen besten Kunden. Er deckt sich bei ihm immer mit alten Romanen ein. Michele überläßt sie ihm zu einem wahren Freundschaftspreis. Stundenlang können die beiden miteinander über Bücher reden. Wenn sie sich mal in dieses Thema verbissen haben, vergessen sie sogar auf mich. Ich bin dann einfach Luft für sie. Manchmal glaube ich, diese blöden Bücher bedeuten Enrico mehr als ich.
Durch uns lernte Michele auch Giorgio und Livio kennen. Aber eigentlich ist nur Enrico sein Freund. Giorgio behandelt ihn immer wie einen Laufburschen, schickt ihn um Zigaretten und verspottet ihn, wenn er wirres Zeug von sich gibt. Livio dagegen kramt meistens seine lückenhafte Allgemeinbildung hervor, spielt den Herrn Professor und stellt dem armen Jungen Fragen, die er natürlich selbst nicht beantworten kann. Er gefällt sich sehr gut in dieser Rolle, und der gutmütige Michele merkt nicht einmal, daß er sich nur lustig über ihn macht. Enrico hat für solche dummen Scherze nichts übrig.
Der Bus zum Industriehafen fährt nach wie vor vom Bahnhofsvorplatz ab. Nur die Fahrkarten sind erheblich teurer geworden. Außer einem Verrückten, der ununterbrochen mit sich selbst spricht, ist Enrico der einzige Fahrgast.
An seinem Fenster ziehen die herrschaftlichen Bauten des Borgo Teresiano vorbei. Doch der Glanz der Monarchie ist längst verblaßt. Enrico ist überzeugt, daß hinter den schönen Barockfassaden die gleiche Tristesse herrscht wie in den Sozialbauten am Rande der Stadt.
Die ganze Innenstadt wirkt wie ausgestorben. Selbst die großen Einkaufsstraßen sind menschenleer. Der Bus kommt rasch voran. Und plötzlich taucht das schwarze Tunnelloch im San-Vito-Hügel vor ihm auf. Die Häuser an den jäh abfallenden Hängen wirken wie über- und ineinander geschachtelt, ein Labyrinth aus steilen Treppen, engen Gassen, schiefen Mauern und finsteren Hinterhöfen.
Enrico wird bewußt, wie sehr er die von üppigem Gestrüpp überwucherten Ruinen und die alten Häuser mit den rotbraunen Schornsteinen und den unzähligen Fernsehantennen vermißt hat. Gelbliche Mauern, von denen der Putz herunterfällt, Simse voller Taubendreck und Treppen voller Hundescheiße ...
Erst jetzt hat er das Gefühl, zu Hause zu sein, falls es für ihn überhaupt noch ein Zuhause gibt.
Bald nach dem Tunnel wird die Straße wieder breiter. Eine Baustelle grenzt an die nächste.
Entsetzt betrachtet Enrico die riesigen Betonklötze, die hier aus dem Boden gestampft wurden. Monströse Neubauten verdrängen die kleinen, meist nur zweistöckigen Gebäude. Die wenigen Geschäfte scheinen ihre Läden für immer dicht gemacht zu haben, kein Restaurant, keine Bar weit und breit.
In der nächsten Kurve kommt die trostlose Industrielandschaft in Sicht, die Raffinerie, die schmutzigweiße Wolke von Italo-Cement und dahinter die graue See.
Zehn Jahre lang fuhren sie täglich mit diesem Bus zur Arbeit. Giorgio und er arbeiteten nicht nur im selben Büro, sie teilten sich auch einen Schreibtisch, die Jause am Vormittag, die Flasche Wein zu Mittag — alles teilten sie miteinander ...
Als nach knapp fünfundzwanzig Minuten ein einsamer Parkplatz auftaucht, ersucht Enrico den Busfahrer anzuhalten.
Selbst wenn der Chauffeur sich fragt, was der ältere Herr am Allerheiligentag hier draußen zu suchen hat, so läßt er sich seine Verwunderung nicht anmerken. Er verabschiedet sich freundlich von ihm.
Enrico wirkt etwas verloren auf dem riesigen Platz. Nebelschwaden ziehen vorüber, vereinen sich mit dem feinen Nieselregen und verleihen der verödeten Gegend einen gespenstischen, graublauen Glanz. Als er das letzte Mal hier war, schien die Sonne.
Die schmale Straße, die sich zwischen Lagerhäusern und Bürogebäuden durchwindet, ist aufgerissen. Braune dickflüssige
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