Triestiner Morgen
Schlammbrocken säumen die nur notdürftig gesicherten Baugruben.
Enrico meidet die Bretter, die die tiefen Schächte bedecken, und drückt sich an den Hausmauern entlang. Der üble Gestank des aufgewühlten Drecks hängt in der Luft. Die Ausdünstung ist so stark, daß man glaubt, sie fast greifen zu können.
Zwischen einer Reihe von neueren Gebäuden, die allerdings bereits ziemlich verwahrlost aussehen, entdeckt er endlich die Nummer 41. Das alte Bürohaus befindet sich in einem erbärmlichen Zustand. Gesprungene, dunkelrote Ziegel, eingeschlagene Fensterscheiben, der Eingang notdürftig mit Brettern zugenagelt.
Sein Zimmer befand sich im letzten Stock dieses vierstöckigen Gebäudes. Es hatte kleinere Fenster als die Räume in den unteren Etagen, aber von seinem Schreibtisch aus konnte er das Meer sehen.
Alles verändert sich, nichts bleibt wie es war, und doch sieht es hier nicht viel anders aus als vor zwanzig Jahren, ein bißchen verkommener vielleicht, ein bißchen schmutziger und ärmlicher nur.
Vor dem Haus steht eine verrostete Bank aus Eisen. Er setzt sich.
Über zehn Jahre lang war er Mittag um Mittag hier gesessen, hatte unzählige Flaschen Refosco geleert und eine Zigarette nach der anderen geraucht. In den ersten Jahren leistete ihm Giorgio oft Gesellschaft. Später verbrachte sein Freund die Mittagspausen auf angenehmere Weise.
Beide stammten aus ärmlichen Verhältnissen. Giorgio war in einer der großen Mietskasernen in dem Via dell’Istria aufgewachsen — eine starre, düstere und trostlose Umgebung, die er am liebsten für immer aus seinem Gedächtnis gestrichen hätte. Außerdem schämte er sich seiner slowenischen Herkunft und behauptete, kein Wort Slowenisch zu sprechen.
Auch Enrico war zwischen schwarzen Häuserfassaden und krankem Gemäuer groß geworden. Die Gassen waren so schmal, daß nicht einmal zwei Vespas aneinander vorbeikamen. Die vielen düsteren Winkel und Mauern, in denen schon so lange der Verfall lauerte, widersetzten sich hartnäckig der längst fälligen Sanierung.
Während seiner Kindheit und Jugend wohnte er mit seinem Vater im Erdgeschoß eines dieser baufälligen Häuser in der Altstadt. In seiner Straße gab es damals viele Trödelläden. Als Kind verbrachte er mehr Zeit zwischen all dem Kitsch und den mehr oder weniger wertvollen Antiquitäten auf den vollgeräumten Regalen und Pulten als in der Schule. In späteren Jahren wurden dann die winzigen Bars und Trattorien in den gewundenen Seitengassen, durch die niemals ein Sonnenstrahl dringt, sein Hauptquartier.
Enrico war stolz darauf, in Triests ältestem Stadtviertel aufgewachsen zu sein. »Wir sind eben roter Adel«, behauptete er oft und meinte dies durchaus ernst. Enrico scherzte so gut wie nie.
Er war ein sehr aufgewecktes Kind gewesen. Neidische Mitschüler bezeichneten ihn als Streber. Andererseits imponierte er ihnen durch seine sportlichen Leistungen und seine allseits gefürchteten, harten Schläge. Seine Mutter hatte er schon als kleiner Junge verloren. Als sein Vater krank wurde und seinen Job aufgeben mußte, verließ er das Gymnasium, um Geld zu verdienen. Sein Vater hatte bei einer Fischereiflotte gearbeitet. Auch als Frühpensionist und lungenkranker Mann saß er Sommer und Winter den ganzen Tag lang hustend und spuckend auf dem Molo Audace und angelte.
Der Gedanke an seinen Vater stimmt ihn traurig. Er kramt in seinen Manteltaschen und findet einen nur bis zur Hälfte gerauchten Stummel. Aus dem filterlosen Ende quellen verlorene Tabakfäden. Beinahe andächtig betrachtet er das mißgestaltete Ding. Dann nimmt er sein Notizbuch aus der Manteltasche und schreibt: »Trieste, vor dem Büro, 1. 11. 1994, 10 Uhr 35: LZ.«
Als sich Giorgios Silhouette aus dem Nebel schält, geht ein kaum merkliches Zittern durch Enricos Körper. Obwohl sie sich seit zwanzig Jahren nicht gesehen haben, erkennt er den alten Freund auf den ersten Blick.
An dem schönen Giorgio sind die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Der Bauch hängt ihm über die Hose, und von seinen klassischen Zügen ist nur mehr eine wabbelige Masse übriggeblieben. Seine Hamsterbacken heben und senken sich bei jedem Schritt, und seine ehemals dunkelbraune Lockenpracht ist schütter und grau geworden.
Der Vergleich mit dem Jugendfreund schmeichelt Enrico, der einen sportlich durchtrainierten Körper und noch volles, dunkles Haar besitzt.
Auch Giorgio hat ihn sofort wiedererkannt, er steuert, von einem Ohr zum anderen grinsend,
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