Trinity (German Edition)
stützten, sah sie ein verlassenes Vogelnest. Sie sah zu, wie ihr Atem in der kalten Luft dampfte.
Hufschläge. Der Schnee dämpfte alle Geräusche, aber da sonst überhaupt nichts zu hören war, war das Klappern und Klirren verstärkt wahrzunehmen. Viele von den Vögeln in den Ponderosafichten stellten ihren morgendlichen Gesang ein.
Elizabeth lehnte sich in den Schatten der Höhlenbehausung zurück. Sie konnte sich Zeit lassen. Oppenheimer musste hier vorbeikommen. Die schmale Canyonsohle würde ihn direkt auf sie zuführen.
Die Sonne, die jetzt über den Canyonrand gekrochen war, ließ die Schatten schroff und die Farben grell erscheinen. Der Schnee blendete sie so, dass es wehtat. Zackige Klumpen von Lavatuff wirkten wie albtraumhafte Skulpturen. Sie versperrten den Blick auf den Weg.
Sie schluckte. Ihre Kehle zog sich zusammen.
Mit ihrer einen Tat würde sie jetzt gleich zahllose Leben retten, und es würde nur ein Leben kosten. War das nicht logisch? Jetzt war Oppenheimer zu sehen, aufrecht und gerade auf einem braunen Appaloosa, dem, den Roger ihr am Tag zuvor im Stall gezeigt hatte. Oppie trug Handschuhe und ein rotes Flanellhemd. Sein brauner Schlapphut bedeckte seine Augen.
Sie beobachtete seine schlaksige Art, sich zu bewegen, wie er an einer Zigarette zog und sie dann in den Schnee schnippte. Er legte den Kopf etwas zur Seite, kniff die Augen zusammen und sah an der Canyonwand hinauf. Sie konnte seinen ausgeprägten Adamsapfel sehen. Er sah zu den Klippenhäusern herüber und wandte sich dann wieder ab.
Er ritt alleine. Sie sah sich nach anderen Reitern um, einer Eskorte, Leibwächtern für den über alle Maßen wichtigen Direktor des Manhattan-Projekts. Aber nein, sie argwöhnten nichts. In solcher Abgeschiedenheit in den Bergen von New Mexico – worum sollten sie sich hier schon sorgen!
Elizabeth schob den Lauf ihrer Flinte durch die Fensteröffnung. Ein paar Adobestücke bröckelten ab und fielen in den Schnee. Sie sah hinunter, hob dann wieder mit zusammengekniffenen Augen den Blick zu Oppie. Er zügelte sein Pferd, wie um ihr ein besseres Ziel zu bieten.
Das würde alles verändern.
Sie musste an ein Plakat der Livermore Challenge Group denken, an dem sie mitgearbeitet hatte: Es zeigte scheußlich verbrannte Leichen aus Hiroshima, die Silhouetten von menschlichen Wesen, von denen nur die Schatten an einer Wand in Nagasaki übriggeblieben waren. Hunderttausend Tote vom ersten Abwurf. Weitere fünfzigtausend vom zweiten.
Und die Angst, die der Kalte Krieg jahrzehntelang erzeugt hatte, die Produktion immer größerer und besserer Bomben. Die Kinder, die – so wie sie – in ewiger Angst vor den Sirenen herangewachsen waren. Die Lehrfilme, die einem zeigten, wie man Deckung suchen musste. Und dann die Leute wie Jeff, die ihr Leben dafür gegeben hatten, um sich der Ausbreitung von Kernwaffen zu widersetzen.
Jeff lag tot in einem unmarkierten Grab, zurückgeschleudert in der Zeit, zu einem Zeitpunkt zwanzig Jahre vor seiner Geburt – eine Folge des Balls, den J. Robert Oppenheimer ins Rollen gebracht hatte.
Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerschmetterer von Welten.
Elizabeth hatte eine Chance, die Tafel leer zu wischen, mit einer neuen, besseren Gleichung von Neuem zu beginnen.
Sie spähte den Lauf ihres Gewehrs entlang. Sie stützte es mit der linken Hand, presste den Kolben an ihre Schulter. Sie spürte, wie ihre Hände zitterten. Sie würde nur zwei Schüsse haben.
Jetzt war Oppenheimers Kopf vor ihrem Visier. Da unten wartete er auf sie, nichtsahnend, genoss den Wintermorgen.
Oppenheimer war der Angelpunkt hatte Fox gesagt. Sein brillanter Verstand, das, was er tat – sie bewirkten, dass das Manhattan-Projekt seinen Lauf nahm. Er hatte gewusst, was er tat, als in seinem Kopf Visionen von atomarem Feuer tanzten. Vielleicht war es ein Spiel für ihn, eine interessante Fragestellung aus der Physik – die Frage, wie viel Tod und Vernichtung ein einzelner Mann hervorrufen konnte. Sie brachte es nicht fertig, in ihm ein wertvolles menschliches Wesen zu sehen. Im Augenblick war Oppenheimer ein Ziel, ein Dominostein, den sie in die entgegengesetzte Richtung umkippen würde, weg von der Kette von Ereignissen, von der sie wusste, dass sie geschehen würden, wenn sie jetzt nicht handelte.
Mrs. Canapelli hatte davon geplaudert, dass sie und ihr Mann in Berkeley mit Oppie und seiner Frau Kitty befreundet gewesen waren, hatte erzählt, dass er ihr nach dem Tod ihres Mannes die Stelle als
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