Trinity (German Edition)
langen Bahnreise an die Ostseeküste nicht gut geschlafen. Das überfüllte Abteil, die ratternde Bewegung des Zugs und das ständige Pfeifen des Luftzugs an den Fenstern verbündeten sich gegen ihn und nahmen ihm die Ruhe. Es gehörte sich nicht, dass Leute schliefen, während untertags die vom Krieg verwüstete Landschaft draußen vorbeiflog und die ganze Nacht über Dörfer auftauchten und wieder verschwanden, einige beleuchtet, andere dunkel.
Er hatte immer noch den Zwiebelgeschmack von der Mahlzeit auf der Zunge, die er während eines langen Aufenthalts in Leipzig zu sich genommen hatte. Als der Zug um Mitternacht in den Bahnhof von Berlin gerollt war, hatte Esau sich danach gesehnt, auszusteigen und nach Hause zu gehen, sich zu waschen und einmal richtig auszuschlafen. Am Morgen würde es auch noch einen Zug geben.
Aber Speer würde das erfahren. Die Anweisungen, die der Reichsminister ihm erteilt hatte, waren eindeutig gewesen. Also blieb Esau im Zug, starrte mit verschlafenem Blick auf den fast leeren Bahnsteig hinaus und hoffte, dass ihm die Fahrt nach Peenemünde schneller vergehen würde. Er bat den Schaffner um eine zusätzliche Decke, aber auch die konnte die winterliche Kälte nicht vertreiben.
Irgendwo dort draußen versuchten die Menschen, den Krieg zu vergessen und sich auf Weihnachten vorzubereiten. Esau hatte weder Frau noch Kinder und brauchte sich deshalb um solche Dinge keine Gedanken zu machen, und all diejenigen, die er vielleicht als Freunde hätte bezeichnen können, waren in Wirklichkeit bloß Kollegen, und Kollegen machten sich gegenseitig zu Weihnachten keine Geschenke. Ganz besonders nicht in solchen Zeiten.
Am nächsten Morgen trank er ein paar Tassen Tee und aß ein Hörnchen. Der Zug traf kurz nach Sonnenaufgang in Stettin ein, wo Esau umsteigen musste. Eine Stunde später waren sie in Wolgast. Nachdem der Schaffner die Station ausgerufen hatte, stand Esau auf, holte den Koffer aus dem Gepäcknetz und stieg wie gerädert aus.
Die Insel Usedom mit Peenemünde an der nördlichen Spitze lag an der Ostseeküste und war etwa 400km² groß und hatte die Form eines Hühnerfußes mit drei Zehen an der Südseite, die in die weite Oderlagune zeigten, während die schmale obere Hälfte der Insel in den pommerschen Meerbusen zeigte.
In der nahegelegenen Ortschaft Wolgast fand Esau ein Fährboot, das ihn über den halbzugefrorenen Fluss zu der Sperrzone auf der Insel bringen sollte. Auf der Eisfläche nahe beim Festland liefen Kinder Schlittschuh, als wäre alles in der Welt in Ordnung.
Die Küste von Peenemünde war mit Stacheldraht und Staketenzäunen gesichert. Von der Landestelle der Fähre führten Eisenbahngeleise zu verschiedenen Punkten der Insel. Man hatte sie gelegt, um Material und Geräte zu befördern, aber Esau konnte weit und breit keinen Zug sehen.
Als die Fähre anlegte, und er unter seinem Mantel fröstelnd und mit dem Koffer in der Hand an Land ging, kamen ihm zwei Wachen entgegen. Er ließ sie seine von Speer persönlich ausgestellten Papiere inspizieren, und dann fuhr ihn einer der Männer mit dem Wagen über die holprigen Kiesstraßen der Insel. Esau war zu müde und auch zu schlecht gelaunt, um sich zu unterhalten, und der Fahrer sah während der ganzen Fahrt kein einziges Mal zu ihm hinüber.
Sie kamen an Dünen und kleinen Kieferngehölzen vorbei, einem verlassen wirkenden zugefrorenen See und ein paar kleinen Militäransiedlungen auf der Insel – Trassenheide, Karlshagen, und auch an ein paar Gebäuden, die allem Anschein nach für Forschungsarbeiten benutzt wurden. Als sie die Ortschaft Peenemünde erreicht hatten, ließ der Wachmann ihn aussteigen und zeigte Esau eine Bürobaracke und forderte ihn auf, dort nach General Dornberger zu fragen.
Es dauerte eine weitere halbe Stunde, wobei seine Stimme allmählich ungehaltener wurde, bis ein Leutnant schließlich seinem Wunsch nachkam und ihm die Möglichkeit zu einem außerplanmäßigen Zusammentreffen mit dem Leiter der Forschungsstation einräumte. Offenbar hatte Reichsminister Speer weder telegraphiert noch angerufen.
»Der General bereitet sich auf Stand X auf den heutigen Testschuss vor«, sagte der Leutnant. »Wir haben strikte Anweisung, ihn während der Schlussstadien eines Testschusses nicht zu stören. Möchten Sie auf ihn warten?«
Esau war verärgert und blieb hartnäckig. »Ich würde mich liebend gerne ausruhen, mich umziehen und etwas Anständiges essen. Aber den Luxus kann ich mir nicht leisten
Weitere Kostenlose Bücher