Trinken hilft
Chinesen oder Griechen um die Ecke. Nicht einmal einen Italiener gab’s um die Ecke, der nächste wohnte in drei Kilometer Entfernung und verkaufte keine Pizzen, sondern entwarf Fliesen.
Ich riet Barbara – sie war hier zu ihrem Taufnamen zurückgekehrt, allerdings mit rollenden Rrrs und langen, volltönenden Vokalen – ich riet ihr, selbst zu kochen. Seitdem bin ich Alkoholiker. Der Sommer war grandios, aber kaum zu bewältigen. Wie viel Freunde man hat, erfährt man erst, wenn man in der Toskana wohnt. Im Winter dagegen kann es sehr einsam werden, vor allem während der Regenzeit. Unsere Zufahrt verwandelte sich in ein Schlammbett, man musste das Auto weit weg vom Haus stehen lassen und zu Fuß sehen, wie man mit seinen Weinflaschen an Land kam.
»Vielleicht ist das Landleben doch nicht das Ideale«, sinnierte Barbara im dritten Winter und vertiefte sich in den Immobilienteil des Corriere . »Was hältst du von Mailand?«
»Könnte aufsteigen mit dem neuen Mittelstürmer von Real Madrid …«, befand ich.
Mit ›aufsteigen‹ hatte ich ohne böse Absicht das Zauberwort getroffen. Dem hatte ich zu verdanken, dass ich mich wenige Monate später in einer heruntergewirtschafteten, aber fantastisch gelegenen Mailänder Altbauwohnung abrackerte, um die Spuren früherer Generationen von den Wänden zu kratzen. Die Wohnung hatte Stil. Welchen? Fragen Sie mich was Leichteres. Diese häufigen Tapetenwechsel verwirrten mich, sodass ich manchmal, nach dem Aufsperren der Wohnungstür, zögerte. War ich hier richtig?
»Scusi, wissen Sie, wer hier wohnt?«, fragte ich einmal einen Fremden, einen Besucher meiner Frau, dem ich in der Diele begegnete. Ja, ich gestehe, irgendwo zwischen Mailand und London, oder war es Genf, kam mir etwas abhanden. Spirituelle Menschen bezeichnen es als ›die eigene Mitte‹, bei Seeleuten spricht man vom Ortungssinn, ich benannte es gegenüber einem Kellner als Gegenwartsverlust, weil ich mich und meinen jeweiligen Standort nicht mehr unter einen Hut brachte. Es konnte passieren, dass ich Bahnhofskneipen aufsuchte und nicht mehr weichen wollte. Bahnhofskneipen sind überall gleich. Schmuddelig, stillos, verräuchert. Manchmal die einzige Konstante im Leben eines Getriebenen. Das verleiht ihnen den Nimbus von Heimat. Mailand kann himmlisch sein, vor allem, wenn man nach dreistündiger Koloratur die Scala hinter sich lässt und dann endlich, endlich dem Kellermeister beim Entkorken eines leicht angestaubten Barolo Campè Vursu zusieht.
Nach zwei Opernabonnements ist jede gesunde Frau hinlänglich für Geschrei sensibilisiert, um den Wunsch nach einem Kind nicht länger zu unterdrücken. Daher die vielen Bambini in Italien. Barbara entzog sich diesem Trend nicht, es wurde auch Zeit, wenn ich das sagen darf. Bis auf den Babyboom hatte sie alles mitgemacht. Ich schöpfte Hoffnung, als sich die Erziehungsratgeber auf ihrem Nachttisch stapelten. Ein Kind würde für Sesshaftigkeit und Kontinuität sorgen, darauf kann man sich verlassen.
Eines Abends fasste sie ihr angelesenes Wissen in der Bemerkung zusammen: »Ich finde, wir sollten unser Kind nach der Montessori-Pädagogik aufwachsen lassen.«
Ich nickte wohlwollend. »Warum nicht? Hört sich italienisch an, und da wir uns nun mal für Italien entschieden haben …«
»Moment, diese Pädagogik stammt aus der Schweiz«, belehrte sie mich. »Hier in Italien arbeiten die Kindergärten noch ganz traditionell. Die meisten sind sogar katholisch. Das sollten wir unserem Kind nicht zumuten.«
»Soll das heißen …?«
»… dass wir in die Schweiz ziehen. Logisch. Du wirst dein Kind doch nicht von diesen hysterischen Betschwestern evangelisieren lassen!«
Wer möchte das schon? Vor allem, wenn er aus Mangel an Einkehr den Glauben verloren hat. Trotzdem … »Könnten wir nicht warten, bis das Kindergartenalter erreicht ist?«, bettelte ich um Aufschub.
»Madonna! Du wirst mich doch nicht in einer italienischen Klinik entbinden lassen!«, empörte sich die zukünftige Mutter, und ich schämte mich. Nun gut. Kurz vor ihrem nächsten Eisprung hatte sie ein Haus in der Schweiz gefunden. Ein Reihenhaus zwar, so bürgerlich hätte ich sie nicht eingeschätzt, aber es war nur einen Steinwurf vom Montessori-Zentrum entfernt. In Genf übrigens, und Genf sei international, betonte sie.
Genf ist stockschweizerisch. Sie merkte es später als ich. Ich merkte es bereits bei den Einreiseformalitäten, sie erst nach zwei Jahren, als sie noch immer nicht
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