Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
ist jetzt, pumpst du deinem Bruder das bisschen Geld, oder nicht?« Und mit diesen Worten knöpfte er mir den wattierten Mantel auf, griff in die Innentasche und holte meinen Geldbeutel hervor.
»So, Bruder«, sagte er, »ich leihe mir jetzt von dir soundso viel, und den Geldbeutel, guck hier, den stecke ich zurück in deine Manteltasche.« Er schob den Geldbeutel in die Außentasche meines Mantels. Ich war natürlich erstaunt, dermaßen unerwartet meinem Bruder zu begegnen. Ich sagte erst einmal nichts, und dann fragte ich ihn:
»Wo warst du eigentlich die ganze Zeit?«
»Dort«, antwortete mein Bruder und machte eine undeutliche Handbewegung. Ich überlegte, wo dieses »dort« wohl sei, aber mein Bruder stieß mich in die Seite und sagte: »Guck mal, sie haben den Laden aufgemacht.«
Bis zur Tür des Geschäfts gingen wir zusammen, aber drinnen fand ich mich allein wieder, ohne Bruder. Ich verließ für einen Augenblick meinen Platz in der Schlange und spähte durch die Tür auf die Straße. Aber mein Bruder war nirgends zu sehen.
Als ich meinen Platz in der Schlange wieder einnehmen wollte, ließ man mich nicht und schubste mich sogar nach und nach hinaus auf die Straße. Ich unterdrückte meine Wut über derlei schlechtes Benehmen und begab mich auf den Heimweg. Zu Hause entdeckte ich, dass mein Bruder das ganze Geld aus meinem Geldbeutel genommen hatte. Da wurde ich furchtbar böse auf meinen Bruder, und danach haben wir uns nie mehr versöhnt.
Ich lebte allein und ließ nur diejenigen zu mir, die meinen Rat erfragen wollten. Aber solche gab es viele, und so kam es, dass ich Tag und Nacht keine Ruhe fand. Manchmal war ich so müde, dass ich mich auf den Boden legte und ausruhte. Ich lag auf dem Boden, bis mir kalt wurde, dann sprang ich auf und begann im Zimmer auf und ab zu laufen, um mich aufzuwärmen. Dann setzte ich mich wieder auf die Bank und erteilte allen, die es wünschten, meine Ratschläge.
Sie kamen einer nach dem anderen zu mir herein, manchmal gaben sie sich die Klinke in die Hand. Ich fand es komisch, in ihre gequälten Gesicher zu schauen. Ich sprach mit ihnen und konnte das Lachen dabei kaum unterdrücken.
Einmal konnte ich mich nicht mehr beherrschen und brach in Gelächter aus. Entsetzt ergriffen sie die Flucht, der eine durch die Tür, der andere durchs Fenster und der dritte direkt durch die Wand.
Allein zurückgeblieben, erhob ich mich in meiner ganzen mächtigen Größe, öffnete den Mund und sagte:
»Prin tim pram.«
Doch da knackte etwas in mir, und seitdem dürfen Sie annehmen, dass es mich nicht mehr gibt.
<1935–1937>
»Prin tim pram«: dieses Wort verwendet Charms auch als Name eines Zirkus in seinem Kindergedicht »Zirkus Prin-tim-pram« (siehe Daniil Charms, »Seltsame Seiten. Ausgewählte Gedichte und Geschichten für Kinder«, Berlin 2009).
Ein Mann ging als Gläubiger schlafen und wachte als Ungläubiger auf.
Zum Glück stand im Zimmer dieses Mannes eine medizinische Dezimalwaage, und der Mann hatte die Angewohnheit, sich jeden Tag morgens und abends zu wiegen. Also, der Mann hatte sich vor dem Schlafengehen gewogen und erfahren, dass er 4 Pud und 21 Pfund wog. Am nächsten Morgen stand der Mann als Ungläubiger auf, wog sich wieder und erfuhr, dass er nur noch 4 Pud und 13 Pfund wog. »Folglich«, schloss dieser Mann, »hat mein Glauben ungefähr acht Pfund gewogen.«
<1936–1937>
»Pud«: eine russische Gewichtseinheit, die etwa 16 Kilo entspricht.
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Die vierbeinige Krähe
Es war einmal eine vierbeinige Krähe. Eigentlich hatte sie fünf Beine, aber es lohnt nicht, darüber zu reden. Einmal kaufte sich die vierbeinige Krähe Kaffee und dachte: »So, jetzt hab ich mir Kaffee gekauft, aber was soll ich damit machen?«
Da kam zu allem Unglück auch noch ein Fuchs vorbeigelaufen. Er sah die Krähe und rief ihr zu: »He«, rief er, »du Krähe!«
Und die Krähe rief dem Fuchs zu:
»Selber Krähe!«
Und der Fuchs rief der Krähe zu:
»Und du, Krähe, du bist ein Schwein!«
Da war die Krähe so beleidigt, dass sie den Kaffee verschüttete. Und der Fuchs lief davon. Die Krähe kletterte auf den Boden hinunter und ging auf ihren vier, genauer gesagt, fünf Beinen in ihr lausiges Haus.
13. Februar 1938
Wenn der Schlaf den Menschen flieht und der Mensch, die Beine sinnlos ausgestreckt, auf dem Bett liegt und neben ihm auf einem Tischchen eine Uhr tickt und der Schlaf vor der Uhr davonläuft, dann scheint es dem
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