Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
Sessel sitzt? Ich recke den Hals und gucke. Ja, natürlich, da sitzt die Alte, ihr Kopf ist auf die Brust gesunken. Sie scheint eingeschlafen zu sein. Ich stehe auf und humpele zu ihr hin. Der Kopf der Alten ist auf die Brust gesunken, die Arme hängen zu beiden Seiten des Sessels herab. Mir ist danach, diese Alte zu packen und aus der Tür hinauszubefördern.
»Hören Sie«, sage ich, »Sie befinden sich in meinem Zimmer. Ich muss arbeiten. Ich bitte Sie zu gehen.«
Die Alte rührt sich nicht. Ich bücke mich und schaue ihr ins Gesicht. Ihr Mund ist halb geöffnet, und das verrutschte Gebiss schaut daraus hervor. Und plötzlich wird mir klar: Die Alte ist gestorben.
Mich überkommt ein ungeheures Gefühl von Verdruss. Warum ist sie in meinem Zimmer gestorben? Ich kann Tote nicht ausstehen. Und jetzt darf ich mich mit diesem Aas herumärgern, mit dem Hausmeister und dem Hausverwalter reden und ihnen erklären, wie die Alte zu mir ins Zimmer gekommen ist. Ich sehe die Alte voller Hass an. Vielleicht ist sie ja doch nicht tot? Ich berühre ihre Stirn. Die Stirn ist kalt. Ihre Hand ebenfalls. Was soll ich bloß tun?
Ich zünde mir die Pfeife an und setze mich auf die Couch. Wahnsinnige Wut steigt in mir hoch.
»Was für ein Biest!«, sage ich laut.
Die tote Alte sitzt wie ein Sack Mehl in meinem Sessel. Die Zähne ragen ihr aus dem Mund. Sie sieht aus wie ein totes Pferd. »Ekelhafter Anblick«, sage ich, aber ich kann die Alte auch nicht mit einer Zeitung zudecken, denn es könnte ja weiß Gott was passieren unter der Zeitung.
Hinter der Wand hat sich etwas bewegt: Das ist mein Nachbar, der Lokführer, der jetzt aufsteht. Das hat mir gerade noch gefehlt! Wenn der mitbekommt, dass in meinem Zimmer eine tote Alte sitzt! Ich horche auf die Schritte des Nachbarn. Was trödelt der so rum? Es ist schon halb sechs! Er müsste schon längst weg sein. Du lieber Himmel! Auch noch Tee macht er sich! Ich höre, wie hinter der Wand der Petroleumkocher zischt. Ach, wenn er sich nur beeilen und verschwinden würde, dieser elende Lokführer!
Ich ziehe die Beine auf die Couch und bleibe liegen. Acht Minuten vergehen, aber der Tee ist immer noch nicht fertig, und der Petroleumkocher zischt weiter. Ich schließe die Augen und döse.
Ich träume, dass mein Nachbar geht und ich zusammen mit ihm ins Treppenhaus trete und die Tür mit dem französischen Schloss hinter mir zuschlage. Ich habe keinen Schlüssel mit und kann nicht mehr zurück in die Wohnung. Ich werde klingeln und die anderen Bewohner wecken müssen, und das ist nun wirklich ganz schlimm. Ich stehe auf dem Treppenabsatz und überlege, was ich tun soll, und auf einmal sehe ich, dass ich keine Hände habe. Ich neige den Kopf, um besser sehen zu können, ob ich noch Hände habe, und ich sehe, dass an der einen Seite anstelle meiner Hand ein Messer und an der anderen eine Gabel aus dem Ärmel herausragt.
»Da«, sage ich zu Sakerdon Michailowitsch, der aus irgendeinem Grund dort auf einem Klappstuhl sitzt. »Da sehen Sie«, sage ich zu ihm, »was ich für Hände habe?« Aber Sakerdon Michailowitsch sitzt schweigend da, und ich sehe, dass es nicht der echte Sakerdon Michailowitsch ist, sondern einer aus Ton.
Da werde ich wach und begreife sofort, dass ich in meinem Zimmer auf der Couch liege und am Fenster im Sessel eine tote Alte sitzt. Schnell drehe ich mich zu ihr um. Die Alte ist weg. Ich sehe den leeren Sessel an, und mich erfüllt eine wahnsinnige Freude. Also war das alles ein Traum. Aber wo hatte er eigentlich angefangen? War eine Alte gestern in mein Zimmer gekommen? Vielleicht war das auch ein Traum? Ich war gestern zurück nach Hause gegangen, weil ich vergessen hatte, das elektrische Heizöfchen auszuschalten. Aber vielleicht war auch das ein Traum? Wie gut jedenfalls, dass ich in meinem Zimmer keine tote Alte sitzen hatte. Ich werde also gar nicht zum Hausverwalter gehen und mich mit einer Leiche herumschlagen müssen!
Aber wie lange habe ich geschlafen? Ich sah auf die Uhr: halb zehn, in der Früh vermutlich.
Lieber Gott! Was man nicht alles für Zeugs zusammenträumt! Ich nahm die Beine von der Couch, wollte aufstehen, und plötzlich sah ich die tote Alte hinter dem Tisch auf dem Fußboden liegen, neben dem Sessel. Sie lag mit dem Gesicht nach oben, und das Gebiss, das ihr aus dem Mund gesprungen war, hing mit einem Zahn an ihrem Nasenloch. Die Arme waren verdreht unter ihrem Körper eingeklemmt und nicht zu sehen, unter dem hochgerutschten Rock ragten
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