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Trips & Träume

Trips & Träume

Titel: Trips & Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Fischer
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das Haus betrat. Huguette und Auguste schliefen noch.
    Mit letzten Kräften schleppte ich mich in mein Dachzimmer, ließ mich aufs Bett fallen und war sofort weg. Ich träumte, ich sei ein berühmter Schriftsteller und hielte einen Vortrag an einer Uni oder so, als die Tür des Saals aus den Angeln flog und Anführer quer durch den Raum stolzierte, sich in seiner Uniform vor mir aufbaute, den Finger auf mich richtete und rief: »Das ist er, nehmt ihn fest, den Acidhead!«
    Erschrocken fuhr ich hoch und fühlte mich, als sei ich von einer Dampfwalze überfahren worden. Ich war noch nie mit einer Dampfwalze in Berührung gekommen, trotzdem glaubte ich, dass sich das so anfühlen müsste. Der alte Wecker auf der umgedrehten Obstkiste, die als Nachttisch herhalten musste, zeigte auf kurz vor elf Uhr. Die Sonne schien durchs Dachfenster. Welchen Tag hatten wir?
    Meine Glieder schmerzten und waren bleischwer wie bei einem beginnenden Fieber, in meinem Kopf rauschte ein Schlagzeugsolo Mark’schen Ausmaßes. Irgendwo hatte ich gelesen, der Körper brauche zweiundsiebzig Stunden, um das LSD abzubauen. Houston an Körper, bitte fang damit an!
    Schließlich raffte ich mich auf, zog frische Klamotten an und schlurfte eine Treppe tiefer in die Küche.
    Huguette nippte im Stehen an einer Tasse dampfenden grünen Tees, den sie gern trank. »Sieht man dich auch mal wieder? Der Herr Rumtreiber bequemt sich endlich aus dem Bett.«
    Vor wenigen Wochen hatten Frauen gegen den Paragraphen 218 demonstriert, öffentlich ihre BHs verbrannt und sich im Stern dazu bekannt, abgetrieben zu haben. Ich erinnerte mich gut, wie Huguette das Titelblatt mit Reißzwecken neben dem Telefon an die Wand pappte.
    Wenn es aber um ihre Karriere ging, blieb meine Mutter standhaft konservativ. Sie trug das dunkelblaue Kostüm. Das war ihr Bürooutfit. Darin sah sie aus wie Doris Day.
    Hatte nicht die Partei, in der sie sich engagierte, die Zeichen der Zeit erkannt?
    Wegen Willy Brandt war sie vor drei Jahren eingetreten. Hauptberuflich arbeitete sie als Chefsekretärin bei der Chemiefabrik, dem größten Arbeitgeber der Region. Sie übernahm auch Dolmetscheraufgaben, schließlich sprach und schrieb sie perfekt Französisch.
    Huguette war kurz nach dem Krieg aus Toulouse gekommen. Damals war sie elf oder zwölf. Sie kam im Schlepptau von Auguste, ihrer deutschen Mutter. Auguste war in unserem Kaff geboren und als junge Frau ihrer großen Liebe nach Südfrankreich gefolgt. Auf den alten Fotos war ein gutaussehender Mann von damals fünfundzwanzig Jahren zu erkennen. Ihn hatte die Abenteuerlust nach Deutschland verschlagen. Nach ihrer Rückkehr eröffnete Auguste einen kleinen Frisiersalon. Damit hatte sie Huguette und sich in den Anfangsjahren über Wasser gehalten.
    Huguette sprach kaum über ihren französischen Vater. Er habe mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet und sei im Gefängnis von Narbonne zu Tode gekommen. Über die genaueren Umstände wusste sie nichts zu berichten, auch weil Auguste ihren Fragen danach auswich. Tatsache war, das lernte ich im Geschichtsunterricht, dass die deutsche Frau eines französischen Kollaborateurs in Frankreich mehr als nur einen schlechten Stand hatte. Auguste verlor nie ein Wort darüber, aber ich konnte mir vorstellen, dass sie Beschimpfungen und Repressalien ausgesetzt gewesen sein musste. Als ich sie einmal danach fragte, sagte sie: »Ich bin gegangen, bevor Schlimmeres passierte.«
    In der Fabrik hatte Huguette meinen Vater getroffen, der dort als Buchhalter arbeitete. Sie war einundzwanzig, er sechs Jahre älter. Drei Monate vor meiner Geburt wurde standesamtlich geheiratet. War ich ein Kind der Liebe oder der Heiratsgrund? Ich traute mich nie zu fragen.
    Meine Eltern trennten sich, als ich sechs war. Seit dieser Zeit habe ich meinen Vater, Werner war sein Name, nicht mehr zu Gesicht bekommen, er hatte wieder geheiratet und war sehr bald in eine andere Stadt gezogen.
    Die einzige lebhafte Erinnerung, die ich an meinen Vater hatte, war, dass er sein Kleingeld nicht in einer Geldbörse aufbewahrte, sondern die Münzen lose in der Hosentasche mit sich herumtrug. Wenn er nach Hause kam, klimperte es in seinen Taschen. Wenn ich erriet, wie viel er in der Hose hatte, oder annähernd dran war, durfte ich die Münzen behalten und steckte sie in eine Spardose.
    Die Dose besaß ich noch immer. Sie stand auf dem Sims meines Dachfensters. Daraus hatte ich die Kohle genommen, um Marks Schlagzeug bezahlen zu können.

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