Trisomie so ich dir
Bäckereifrau guckt so freundlich, so leidlos beschmiert, wie jemand nur gucken kann, dem noch keiner weggestorben ist, und Ingeborg guckt die Bäckereifrau an und diese grinst zurück, und Ingeborg will weinen oder einfach gehen, aber sie bleibt und sagt: »Ein Weißbrot, bitte.« Und die junge Frau Bäckereibedienstete reckt sich formschön nach dem Kastenweißbrot, und Ingeborg fällt etwas ein, nämlich der Weggang von Hermann, und ganz leise sagt sie: »Ach, warten sie, ein halbes reicht auch …« Ist das schon Akzeptanz, denkt Ingeborg oder nur Pragmatismus? Es wird angefragt, ob denn das halbe Brot geschnitten werden soll, und Ingeborg hat sich noch nie ein Brot schneiden lassen und meint: »Ja, bitte, dünne Scheiben.« Und die Bäckereifrau guckt so, wie man auf mitleidige Weise alte Leute anguckt und gibt das halbe Kastenweißbrot in eine Apparatur, die kurz wackelt und das Brot scheibenweise wieder ausspuckt. Die Scheiben gibt sie in eine durchsichtige Tüte und händigt diese Ingeborg aus, die sich fragt: »Merken die Leute, weil ich weniger zu Essen einkaufe, dass der Hermann nicht mehr da ist?« Die Bäckereibedienstete lächelt still und fragt, ob es sonst noch was sein dürfe, ob sonst noch ein Wunsch bestehe, und Ingeborg fühlt, wie sich ihre Augen mit Tränen füllen. Den Wunsch, den ich habe, kannst du mir nicht erfüllen, Brotfrau, denkt die Ingeborg und lächelt und sagt: »Nein danke, alles zur besten Zufriedenheit.« Dann zahlt sie und geht.
Geht zurück in ihre Wohnung, macht die Tür zu, und die Stille, die hier herrscht, ist so unglaublich würdelos. Es ist die Stille, die einen bedroht, die sich um einen schleicht wie ein Tier, das einen langsam zerfleischen möchte. Ingeborg schleicht durch die Küche, macht das Radio an, und was rausfließt, lindert ein wenig die Wunden, die durch die Stille entstanden sind. Als Hermann noch hier war, konnte man an der Frequenz seiner dünnen Atmung sein Dasein, seine Existenz festmachen. Jetzt ist das einzige, was bleibt, ein Grab, darauf ein dummer Stein mit seinem Namen, auch der war so unglaublich teuer, dass Ingeborg sich kaum noch was zu kaufen traut.
Ingeborg sitzt allein in der ansonsten nur durch schmächtige Schlagermusik durchfluteten Wohnung und kämpft mit den Tränen, die ab und an gewinnen, und nach einer kurzen Phase des Weinens gewinnt Ingeborg erneut die Oberhand und die Kontrolle, aber dann beginnt so ein Kreislauf aus Denken, Weinen, sich zusammenreißen und schweigen. Da das belastend ist, sich wie Steine in den Taschen anfühlt, steht Ingeborg auf und läuft orientierungslos in ihrer Wohnung umher. Da, wo das Pflegebett stand, in dem Hermann einfach so belanglos starb, da hält sie einen Moment lang inne und atmet schwer. Atmen ist ja auch eine Angelegenheit, die viel zu viele Leute für viel zu selbstverständlich halten. Atmen ist Arbeit, weiß Ingeborg, als sie auf dem Platz steht, an dem das, was Hermann zuletzt war, von dieser Welt floh. Aus dem Radio singt Udo Jürgens »… siebzehn Jahr’, blondes Haar, so stand sie vor mir …« und Ingeborg will eigentlich jetzt alles laufen lassen, den letzten Funken Trauer aus ihrem Körper pressen, aber dann machen ihre Gedanken etwas eigenartiges. Plötzlich sieht sie eine Art Zeitstrahl vor sich, der sich vor ihrem inneren Auge in die Länge zieht. Darauf sieht sie einen langen Weg, der bereits zurückgelegt wurde, sieht Spuren von sich und von Hermann, und irgendwann kommt sie zu einem Punkt, der Punkt, an dem sie jetzt gerade steht, und der Punkt will etwas von ihr, weil er so einen aufgeregten Glanz hat, und der Zeitstrahl hört genau an diesem Punkt auf. Ingeborg merkt aber, dass ihr Leben nicht zu Ende ist, nein, das Leben geht weiter, das merkt sie jetzt, als sie die Arbeit ihrer Lungen und ihres Herzen bemerkt, dass einfach so unaufgefordert weiter ihre Gedanken nach vorne treibt. Bumm, bumm, bumm sagt das Herz, und Ingeborg sagt nichts, schweigt in ihre Küche hinein und denkt ein paar krumme Gedanken.
Beispielsweise denkt sie, dass so ein Leben, das sie mit Hermann erlebt hat, natürlich ein zufrieden stellendes Leben gewesen ist, alles war dran an diesem Leben, es gab Gewohnheit, es gab Liebe, es gab die Gewohnheit an die Liebe, und man legte sich im Laufe der Jahre immer mehr Strukturen auf, kleine Alltagsfesseln, die aber gut taten, weil sie was mit dem zu tun hatten, was Ingeborg war, nämlich Hausfrau und Ehefrau. Jetzt ist sie Witwe, ein seltsames Wort, das
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