Tristan
gewesen, dass Vögel auf einem Baum, unter den sich der Junge bei einer Rast setzte, nicht weggeflogen wären, sondern sogar von den Ästen herunter und um seine Füße herum friedlich nach Körnern und Würmern zu picken begannen. Schließlich war für den Mönch am verwunderlichsten, dass der Knabe in den Bach stieg und die Forellen aus dem sprudelnden Wasser hob, als wären sie freiwillig in seine geöffneten Hände geschwommen. Aber er weigert sich, schreibt er dann in seiner letzten Note, etwas zu töten, was sich ihm freiwillig ergeben hat. Bleibt also diese fette Forelle mir ganz allein. Dabei würde sie dem puer guttun. Er ist so mager und zugleich so schön anzusehen mit seiner Lockenpracht. Wie die natura ist auch er voller Verständnis und jenseits eines bösen Gedankens. Mit diesen Worten bricht das manuscriptum ab. Am Heftende finden sich noch zwei Seiten, die wahrscheinlich, wie aus Schrift und Tinte zu ersehen ist, früher geschrieben wurden. Sie verzeichnen den Reiseplan der beiden.«
Die kleine Isôt, die sich immer noch hinter dem Vorhang versteckt hielt und kaum zu atmen wagte, entnahm der Stimme des Mönchs, dass er nichts mehr über den Knaben zu sagen hatte. Lautlos wiederholte Isôt in ihren Gedanken dessen Namen: Tristan. Sie glaubte sogar, den Jungen vor sich zu sehen mit goldenen Haaren, aus denen eine Kugel über seine Schulter und über den Arm rollte, wie es Gaukler mit einem Holzball fertigbrachten, den sie über ihre Hände und ihren Rücken laufen ließen, als wäre er ein Tier. Zugleich sah sie ihn umgeben von Schmetterlingen, Libellen und durch die Luft schwimmenden Fischen.
»Was sind das für zwei Seiten?«, unterbrach die verärgert klingende Stimme ihrer Mutter Isôts Gedankenbilder. Dann sprach wieder der Mönch. Isôt löste sich aus den Falten des Vorhangs und ging auf Zehenspitzen davon.
Sieben Jahre, ein Plan ~108~ »Wo sind sie?«
»Diese zwei Seiten«, sagte Benedictus bedeutungsvoll, »wird der Mönch schmerzlich vermissen. Er muss lange an ihnen gearbeitet haben. Zwei Halbkreise sind darauf eingezeichnet, sodass sie zusammen einen Kreis darstellen, so rund wie unser Mond am Himmel.«
»Eine Zeichnung?«, wollte Isolde wissen.
»Mehr als das. Wenn ich es richtig sehe, ein siebenjähriger Kalender und zugleich eine Karte von Europa.«
»Was erzählst du mir da wieder. Zeig her!«
Benedictus übergab ihr das Heft mit den letzten beiden aufgeschlagenen Seiten. Isolde sah tatsächlich einen großen Kreis und darin viele kleine Kreuze und Linien und dazu einzelne Worte und Zahlen. Auf den ersten Blick verstand sie gar nichts. Doch dann bemerkte sie einzelne Wörter, die ihr vertraut erschienen. »Franken«, las sie, »Brabant« und »Roma«. Auch an den sich über das Blatt schlängelnden Linien, die mal breiter, mal schmaler waren, standen Worte, daneben Ziffern, aber auch Zeichen, die wie Mondsicheln oder Halbmonde oder kleine Flecken aussahen. Der Mönch war neben sie getreten und deutete mit seinem kurzen fleischigen Zeigefinger auf einzelne Figuren in dem Kreis.
»Wie meine Königin sieht«, sagte er verhalten, »gibt es hier Namen von Orten und Flüssen und solche von Grafschaften und Königreichen. Wenn Ihr aber einmal die beiden Blätter insgesamt betrachtet, werdet Ihr entdecken, dass der Kreis in sieben ungleiche Segmente unterteilt ist. Das müssen die sieben Jahre sein. Hier muss der Beginn der Reise sein, da hat der Skribent an den Rand des Kreises mit einer helleren Tinte das Wort Drache geschrieben. Dann gibt es in diesem zur Mitte hin spitz zulaufenden Segment eine Reihe von Ortsnamen, die alle an der nordwestlichen Küste des Festlands liegen. Daneben stehen Zahlen, bei denen ich vermute, dass sie die Dauer der Tage angeben, die man braucht, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Wüsste ich, wann der Mönch und der Knabe ihre Wanderung begonnen haben, könnte ich Euch anhand dieses Kalenders sagen, wo sie sich zurzeit befinden.«
»Da kann ich dir weiterhelfen«, sagte die Königin und blickte wie gebannt auf das Doppelblatt des Heftes. »Zwei ganze Mondläufe sind seitdem vergangen.«
»Zwei Monate also? Dann bitte ich Euch, mir für einen Moment das Heft zu überlassen. Dass ich mich vielleicht dort an den Tisch setzen könnte, um nachzurechnen? Und wenn es möglich wäre, würde ich gern um etwas Bier bitten, meine Kehle ist ganz trocken vom vielen Reden. Vielleicht könntet Ihr …«
»Eila!«, rief Isolde in den Raum. »Eila, bring
Weitere Kostenlose Bücher