Tristan
der Burg zu sein und nicht in dieser Stadt, in der er sich nicht auskannte. Er wünschte sich an die Seite seiner Mutter und auf sein Lager hinter dem dichten Vorhang, durch den bis in die Nacht die Gerüche von Merlas köstlichen Suppen drangen.
Tristan schloss die Augen. Er hatte sich hinter einen Stützpfahl eines der größeren Häuser gekauert. Als er die Augen wieder auftat, war es plötzlich dunkel geworden. Fackeln brannten an den Straßenecken, kleine Feuer erhellten am Wegrand die Eingänge. Er wusste nicht, wo er war. Wo war die Kathedrale, wo die Abtei? Dort musste im Refektorium das heilige Abendbrot längst begonnen haben - und er war nicht an der Seite von Courvenal! Ein Schrecken erfasste ihn. Er stand auf, rieb sich die Augen, die ihm vom Rauch der Feuer brannten, hörte das Gelächter vorbeiziehender Männer und sah, wie Frauen die weiten Röcke rafften, wenn sie über Regenpfützen auf der Straße stiegen. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass es in der Zwischenzeit geregnet hatte. Seine zusammengeschnürte Kutte hatte ihm als Kopfunterlage gedient, und niemand schien ihn bemerkt zu haben, wie er an die Säule gelehnt geschlafen hatte. Wunderlich kam ihm das alles vor, fast so, als würde er träumen.
Er folgte einer der Gassen, die sich von Menschen leerten und finster wurden. Die Feuer erloschen allmählich, Tristan hörte scheppernde Schritte, eine Wache mit vier Soldaten zog dicht an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Er wagte nicht, sie zu fragen, ob sie ihm helfen oder den Weg zur Abtei weisen könnten. An einer der Hauswände tastete er sich weiter voran, bis ein Tor nachgab. Dahinein schlüpfte er, hörte das Knurren eines Hundes, das aber gleich wieder verstummte und in ein Schlecken überging. Der Hund schien zu trinken. Tristan verspürte Durst, folgte dem Geräusch, kroch ihm auf allen vieren entgegen und ertastete eine irdene Schale voll mit Wasser. Er beugte sich hinunter, hörte das leise Hecheln des Hundes, aber er scherte sich nicht darum, sondern tauchte die Hände in die Schale. Er trank, bis er nicht mehr durstig war. Dann lehnte er sich zurück, legte sein Bündel unter den Kopf und wollte die Augen schließen. Als er sich zur Seite drehte, spürte er in seiner Mattigkeit, dass da noch jemand war. Er streckte den Arm aus, und seine Finger berührten ein Fell, rau und borstig, aber eine angenehme Wärme ausstrahlend. Ein leises Fiepen des Tieres hörte er noch, dann schlief Tristan ein.
Nella ~114~ Courvenals Misstrauen
Courvenal wollte nicht glauben, was er sah, als er seinen Schüler nach langer Suche im Morgengrauen in der Kaiserstadt Aachen schließlich an der Seite einer Hündin im Hof eines Leinewebers schlafend fand. Tristan hatte seine Arme um den Hund gelegt, der Hund seine Pfoten um Tristan. Natürlich hatte er Tristan sofort geweckt, dem Leineweber einen Sechsling gegeben, damit er den Mund hielte, und dann seinen völlig übermüdeten Zögling durch die Gassen Aachens hinter sich hergezogen. Mit Vorwürfen: »Wie konntest du nur …? Hast du denn nicht an deine Eltern gedacht …? Ist dir denn unsere Reise so unwichtig, dass …?«, hatte er ihn zurechtgewiesen und eingeschüchtert. Die Hündin folgte den beiden brav durch die Gassen und blieb winselnd vor dem Tor der Abtei. Als es sich nach einer halben Mondperiode für Tristan zum ersten Mal wieder auftat und Courvenal und er ihre Reise fortsetzen wollten, wurden die beiden Reiter kläffend von der Hündin begrüßt.
Tristan sprang vom Pferd, um sie wie eine lang vermisste Freundin zu umarmen. Er nannte sie Nella. Courvenal versuchte, das Tier zu verscheuchen, aber es ließ sich nicht abschütteln, blieb nur immer ein Stück weit hinter ihnen, als würde es nicht dazugehören. Am östlichen Stadttor hatte Courvenal noch mit der Wache gesprochen, ob sie ihnen den Köter vom Hals halten könnten, und dem Soldat ein paar Pfennige gegeben. Tatsächlich war die Hündin dann auch, eingeschüchtert durch die gesenkten, auf sie zielenden Lanzen, zurückgeblieben und hatte so getan, als würde sie resignieren - bis plötzlich nach einer langen Wegstrecke lautes Gebell zu hören war und die Hündin ihnen in weiten freudigen Sprüngen folgte. Da gab sich Courvenal geschlagen. Immer noch besser ein Hund ist uns auf den Fersen, dachte er, als aus Eruivon Königin Isolde gesandte Meuchelmörder.
Als sie am ersten Abend ihrer Weiterreise nach der Erzbischofsstadt Colonia an einem Bach in einem Waldgebiet ihr Lager
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