Tristan
als an der Sehne des Bogens. »Culo« hatte er nur dieses eine Mal zu ihm gesagt, als er besonders wütend gewesen war. Aber er hatte das Wort leise gesprochen und sich dabei auch noch von Courvenal abgewendet. Trotzdem hatte Courvenal es gehört und Tristan deshalb später einmal mit strengen Worten zurechtgewiesen. Tristan fühlte sich zu Unrecht falsch behandelt. Am selben Tag ritt Don Hermano für einige Zeit nach Madrid und hatte Tristan anfänglich versprochen, ihn auf die kurze Reise mitzunehmen. Das verbot Courvenal. Im Gegenzug lehnte es Tristan schroff ab, seinen Lehrer ins Scriptorium zu begleiten. Nachdem er erst verärgert und gelangweilt in der Kemenate geblieben war, machte er sich schließlich lustlos auf, um nach Thomas zu sehen, den er lange nicht getroffen hatte. Doch der Verschlag, in dem der Knecht wohnte, war leer. Tristan fragte herum. Eine Marktfrau sagte ihm, der »Alemannenknecht« sei in Richtung der Kapelle unterwegs. Er habe einen Sack auf dem Rücken gehabt.
Tristan bedankte sich für die Auskunft und fand den Weg wieder über die gepflasterten Gassen zu den Treppen, die zur Kirche hinaufführten. Diesen Ort hatte er, seit er den Hahnenkampf beobachtet hatte, gemieden. Wie schon beim ersten Mal fand er das Gotteshaus leer, verließ es wieder, ging außen um die bröckelnden Stützmauern herum und erreichte im Rücken der Kathedrale ein Feld, auf dem die Toten bestattet wurden. Er sah dort Kreuze stehen aus zusammengebundenen Holzstücken, aber auch Steinhaufen waren aufgeschichtet. An zwei offenen Erdlöchern ging er vorbei, an aufgeschütteten Hügeln, über die verdorrte Äste von Ölbäumen gelegt waren. Dazwischen standen vereinzelt Kiefern, von denen man die unteren Äste weggeschlagen hatte, und Pinien, jene Bäume, von deren Zapfen die Kerne stammten, die er so gern aß.
Zwischen einer solchen Baumgruppe entdeckte er Thomas. Er stand, noch weit von Tristan entfernt, bewegungslos mit dem Rücken zu ihm. Diese Ruhe des Knechts machte ihn wütend. Dich werde ich …, dachte Tristan in seinem Eifer, der unentwegt an ihm zog und zerrte …, dich krieg ich! Zur Rede stellen wollte er ihn, fragen, was seine Aufgabe sei, wie es um die Pferde bestellt wäre, morgen schon - morgen! - könnte Seine Eminenz Courvenal den Wunsch zur Abreise äußern! Wären dann die Pferde gesattelt, die Packpferde beladen? Wäre das möglich, wenn sich derjenige, der dafür zu sorgen hat, untätig auf einem Totenacker aufhält? Wie schnell könnte es geschehen, dass er selbst dort unter der Erde läge!
Mit diesen Gedanken näherte sich Tristan Thomas. Beim Herankommen hörte er, dass der Knecht zu weinen schien. Er stieß auch im Schluchzen einen Namen aus, den Tristan anfangs nicht verstand. Dann aber, nur noch ein paar wenige Schritte hinter Thomas, war dieser Name nur allzu deutlich: Nella.
Tristan blieb wie angewurzelt stehen und nannte leise Thomas’ Namen. Der junge Mann drehte sich um, als hätte er seinen Begleiter erwartet.
»Sie ist diese Nacht gestorben«, sagte er beinahe flüsternd. »Sie hat gewimmert und gewinselt. Ich konnte kein Auge zumachen. Hab mich an ihre Seite gelegt auf den Boden, ihre Pfoten gehalten, als wären es Hände. Aber sie konnte nicht einmal mehr meine Finger lecken, wie sie es doch so gern tat. Sicher wollte sie auch Euch noch einmal sehen. - Nella!« Thomas’ Stimme erstickte im Schluchzen.
Tristan war neben ihn getreten. Er sah einen Sack in einem Erdloch liegen, das Thomas wohl mit bloßen Händen ausgehoben hatte. Dass darin nun Nella begraben werden sollte, konnte er zunächst nicht fassen. Sein Ärger mit Courvenal, seine Enttäuschung über die Absage der Reise mit Don Hermano, seine Erfolge bei der Kampfausbildung - all das war mit einem Mal unwichtig.
Tristan begann zu weinen. Erst beweinte er Nella, dann fühlte er den Schmerz, nicht bei Floräte und Rual, nicht in Conoêl zu sein. Bittere Tränen stiegen in ihm darüber auf, die Zuneigung Courvenals verloren zu haben. Ortie erschien wieder vor seinen Augen, und wie ein Echo dieses Erinnerungsbildes sah er Elbeths blau angelaufenen, zungenlosen Mund vor sich, erschrak darüber, riss die vertränten Augen auf und dachte schließlich an die schöne Stimme Beatas, bei der er das Singen gelernt hatte. Melodien, die so weit zurücklagen, als hätte es sie gar nicht gegeben, kamen in seinen Sinn. Singen wollte er sie, brachte aber keinen Laut hervor, spürte, dass seine Stimme gebrochen war, nie mehr so klingen
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