Tristan
öffnen, die die Kugel bisher umschlossen hatte, doch dort lag sie und drückte auf die weiche Haut seiner Hand und schmiedete ihn fest. Hilflos sah er sich um, wollte nach jemandem rufen. Bis er sich selbst sah. Direkt vor ihm glänzte eine Wasserfläche, so glatt und eben, dass ihm das Bild seines Gesichts entgegenblickte. Über ihm, in dem Bild, spiegelten sich die Blätter der Farne, die Blüten der Pflanzen und ein kleiner Ausschnitt des Himmels. Von seinem eigenen Gesicht ahnte er, dass er es kaum wiedererkennen würde, wäre er sich gerade jetzt irgendwo selbst begegnet. Er sah sein blondes, seitlich der Wangen herabfallendes Haar, sah Mund, Nase, Augenbrauen und Stirn - nur seine Augen sah er nicht und achtete auch nicht darauf. Sein Gesicht war schmal, über der Oberlippe bildete sich der Flaum heller Haare, er sah seine Wangenknochen, seinen Hals, wie er sich bewegte, als er schlucken musste, schlucken, weil er nicht glauben wollte, was er sah: einen jungen Mann. Vergeblich begann er, nach seinen Augen zu suchen. Tiefer müssen sie liegen, schoss es ihm durch den Kopf, weit unter der Oberfläche!
»Herr Tristan!«, hörte er nach sich rufen, als er im Begriff war, sich weiter hinabzubeugen, »was ist mit diesem Messerchen hier? Soll ich das einpacken?«
Messerchen? - Tristan schaute auf. Enrique stand vor ihm und hielt ihm etwas vors Gesicht. - Hatte er geträumt? Er schüttelte den Kopf, um sich von seinen Eindrücken frei zu machen.
»Also nicht einpacken!«
»Ich weiß nicht«, sagte er abwesend. Er wusste weder worum es ging, noch wo er sich befand, sah den Garten vor sich und sich selbst, gebeugt über sein Gesicht. Narziss?, dachte er. Courvenal hatte ihm davon erzählt, von Narziss und Echo, von der Wehmut der Menschen, ihr Alleinsein akzeptieren zu müssen und sich deswegen Doppelbilder zu erschaffen, von Ovid und den Griechen, von den Heuschrecken, die man von Bäumen pflücken kann.
Da wachte Tristan auf.
»Einpacken!«, sagte er. Keinen Schritt weit hatte er sich von seinem Platz fortbewegt und war doch so fern gewesen.
Aufbruch ~ 154 ~ Das Meer
Zwei Tage darauf - Enrique hatte längst alles verwahrt und verschnürt und wasserdicht versiegelt - kam Courvenal zurück. Er war voller Elan, bedauerte, dass Don Hermano bei ihrer Abreise nicht dabei sein konnte, »aber wenn wir die Küste erst einmal erreicht haben«, sagte er, »finden wir, so Gott will, ein Schiff, das uns übers Meer den Weg nach Hause verkürzt, als hätten wir Flügel!« Kein Wort kam Courvenal über die Lippen zu Thomas, zu Nella, dazu, dass er Tristan mit Enrique so lange allein auf der Burg gelassen hatte. Nichts mehr war zu hören von den versprochenen Ausritten in die Stadt, zu der »Grotte der Gläubigen« und nach Madrid, der zukünftigen Residenz des spanischen Königs. All das schien nicht mehr zu existieren. Es ging nur noch darum, genug Wasser, Brot, getrocknetes Fleisch, Salz und Öl auf die Pferde zu verladen, damit sie lieber heute als morgen losziehen konnten.
So geschah es auch. Am zweiten Morgen nach Courvenals Rückkehr wurde Tristan von Enrique geweckt, mitten in der Nacht wie ihm schien. In der Dunkelheit ritten sie aus dem Tor der Burg hinaus, in der Morgendämmerung erreichten sie eine Hügelkette, hinter der Toledo für immer vor Tristans Augen verschwand.
Sie ritten in nordwestlicher Richtung. Courvenal sprach von ihrer nächsten großen Station, von Salamanca. Um ungehindert voranzukommen, hatte er angeordnet, dass Tristan - wie er selber - wieder die Kutte der Benediktinerbrüder trug. Käme es zu einer Begegnung mit Fremden, sollte Tristan rechzeitig seine Kapuze über den Kopf ziehen und seine Haare verstecken. Enrique wurde vorausgeschickt, um abzuwägen, wie man sich Ansässigen gegenüber verhalten sollte. In einigen Gebieten spanischer Herrscher mussten sie Wegzölle zahlen, in der Gegend von El Vado begleiteten sie sogar zwei Reiter und führten sie durch unwegsames Gebiet. Einen ganzen Tagesritt hätten sie sich dadurch erspart, begründete Courvenal diesen Dienst, den er gut belohnte.
Tristan trug während all dieser vielen Tage und ermüdenden Ritte durch eine oft karge Landschaft aus Felsen, Sand und Gestrüpp immer die Kugel bei sich. Sie war in dem Beutel, den er unter der Kutte direkt an seinem Leib trug. Courvenal hatte nicht ein einziges Mal danach gefragt, obwohl er doch wusste, dass es der kostbarste Gegenstand war und der wertvollste, den sie aus Conoêl mitgenommen
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