Tristan
hatten. Er sprach ohnehin nur das Nötigste mit seinem Schüler. Tristan beobachtete ihn. Mit Enrique ging er freundlich um, schickte ihn manchmal von ihren Nachtlagerplätzen zu einem Gehöft oder einer finca, um Schinken, Eier oder Oliven zu besorgen.
Bisweilen ließen die beiden Tristan allein mit dem Packpferd bei den Zelten zurück. Das machte ihn unruhig. Angst hatte er nicht. Wenn er zu müde war, um noch das Feuer in Gang zu halten, verkroch er sich auf sein Lager und hörte, mitten in der Nacht, die verärgerte Stimme Courvenals, der in der Dunkelheit gestolpert war. Einmal glaubte er sogar, vom unterdrückten Lachen einer Frau geweckt worden zu sein. Vorsichtig schlich er nach draußen, konnte aber in der sternklaren Nacht niemanden erkennen, alles war still. Rückwärts kroch er in sein Zelt zurück.
Ein eigenes Zelt zu bewohnen hatte ihn froh gemacht, und er hatte Courvenal dafür gedankt. »Du bist zu alt geworden, als dass wir zwei noch nebeneinander liegen könnten«, hatte Courvenal beiläufig gesagt. Nun jedoch, das leise ferne Lachen der Frau in seinem Ohr, bekam diese Aufteilung eine ganz andere Bedeutung. Weil er sich mit niemandem darüber unterhalten konnte, schon gar nicht mit Courvenal, verspann er sich in den Gedanken, dass das Alleinsein hauptsächlich von dem Meister dazu geschaffen worden war, selbst mit jemandem zusammen sein zu können, den andere nicht kennenlernen sollten.
Auch in Salamanca verhielt Courvenal sich merkwürdig. Sie waren in einer Herberge eingekehrt. Tristan schlief mit zwei Pilgern in einem Zimmer, Enrique in einer Unterkunft bei den Ställen. Courvenal war nach seinen Worten bei einem alten Freund untergekommen. Am Morgen holte er Tristan ab, um ihn zu der noch im Bau befindlichen universitä zu bringen. Dann ließ er ihn gehen und zeigte ihm vorher noch den Stand, wo sie am Abend gemeinsam essen würden. »Ich überlasse dich jetzt dir selbst«, hatte Courvenal beim Abschied gesagt. Das bedeutete nichts anderes - so weit kannte Tristan inzwischen seinen Lehrer -, als dass er keine weiteren Fragen hören wollte. Tristan tat deshalb so, als bestaune er noch die Steinmetze, die unter Sonnendächern unermüdlich ihre Arbeit verrichteten, bevor er zu den Verschlagen ging, in denen junge Leute von Mönchen in der Kunst des Schreibens, des Übersetzens und des Buchschmucks unterrichtet wurden. Doch das alles kannte er schon. Ihn interessierte viel mehr, was in der Stadt und auf ihren Märkten geschah, er wollte die Menschen beobachten, die dort herumliefen, die Reiter und ihre Pferde, er lauschte den verschiedenen Sprachen, die an sein Ohr drangen, deutete die Bewegungen der Hände, die ihre Worte begleiteten. Was aber tat Courvenal in dieser Zeit bis zum Essen am Abend? Einen Moment lang überlegte Tristan, das nächste Mal seinen Lehrer heimlich zu verfolgen, und verwarf den Gedanken gleich darauf. Es war nicht ehrenwert, etwas Derartiges zu tun.
Als sie sich am Abend trafen, erklärte ihm Courvenal: Er habe einen festen pactio ausgehandelt, dass sie an der Küste, nur zehn Tagesritte von Finisterre entfernt, mit zwei Pferden auf einem Segler Platz fänden, der sie bis an die normannische Küste bringen würde. Von dort wäre es nicht mehr weit bis nach Parmenien. Er nannte die Zahl der Meilen, die sie bis Conoêl zurücklegen müssten, doch Tristan kümmerte sich nicht darum.
»Wie viele Nächte noch?«, fragte er Courvenal wie ein ungeduldiges Kind.
»Zwei Monde? Vielleicht auch nur einen und einen halben? Oder auch drei oder vier? Weiß ich, wie schnell die Schiffe heute segeln, woher Gottvater seinen Atem über unsere Welt bläst und was uns auf unserem Weg an Hindernissen begegnet? - Gleichgültig also, wie lange noch. Was bedeutet schon Zeit, wenn wir an die Zukunft denken. Das sind nur unsere Wünsche. Zeit und Zukunft haben nichts miteinander zu tun. Wir sehen nur zurück oder auf das, was wir gerade vor Augen haben. Bald, sehr bald jedenfalls, werden wir das Meer erreichen, auf dem es keine Wege und Kreuzungen, keine Berge und Städte und vor allem keine Menschen mehr gibt, die mich daran hindern könnten, dich unversehrt bei deinen Eltern abzuliefern. Erst wenn das geschehen ist, habe ich meine Aufgabe beendet.«
»Und Enrique?« Tristan spürte neben der Angst, Courvenal zu verlieren, zugleich die Sehnsucht nach seiner Heimat so mächtig in sich aufsteigen, dass er in seiner Verworrenheit nur nach etwas Naheliegendem, nach dem Knecht, fragen
Weitere Kostenlose Bücher