Tristan
höflich zu ihm und baten ihn daher zu verstehen, dass sie sich an die Anweisungen halten müssten.
»Wenn ich nicht in den Saal hineindarf«, sagte Tristan, »könnt ihr mir aber etwas daraus hervorholen. Oder ist das auch verboten?«
»Davon wissen wir nichts. Worum geht es denn?«, fragte Inger. »Um ein Buch.«
»Um welches?«
»Es ist mit rotem Ziegenleder eingeschlagen und hat in der Mitte des Einbands ein Schwert.«
»Ein Schwert?« Mollroy stutzte. »Ein Zeichen wie ein Schwert.«
»Du meinst ein T?«
»Keine Ahnung«, sagte Tristan mit Unschuldsmiene. »Ich kann nicht lesen. Könnt ihr es denn?«
»Einiges«, log Inger. Er konnte nur ein paar Buchstaben unterscheiden. So wusste er, dass sein Name mit einem langen Strich anfing.
»Wunderbar!« Tristan klatschte vor Freude in die Hände. »Holt mir das Buch mit dem Schwert!«
»Mit dem T«, verbesserte ihn Mollroy. »Natürlich können wir das holen, du musst uns nur noch sagen, warum?«
»Warum denn nicht?«
»Weil es keinen Sinn macht, ein Buch zu holen für jemanden, der darin nicht lesen kann.«
Daraufhin schwieg Tristan.
Tristans Klugheit ~23~ Bücher
Tristans »Leibwache«, wie Rual Inger und Mollroy nannte, erzählten dem Marschall nach seiner Rückkehr von Tristans Neugier. Rual lobte die jungen Männer dafür, dass sie den Jungen nicht in den Saal gelassen hatten. Insgeheim aber war er kaum verwundert über Tristans Wunsch: Er musste etwas ahnen, sein feiner Instinkt, davon war Rual überzeugt, ließ ihn nach dem suchen, was vor ihm verborgen wurde.
Noch am selben Abend zog sich Rual in den Großen Saal zurück. Mehr als ein halbes Jahr war vergangen, seit er das Buch »T« wieder einmal aufschlug. Es war ein dicker Foliant mit Seiten aus minderwertigem Pergament, wie man es normalerweise für Haushaltsbücher verwendete, um Ein- und Ausgänge von Geldern oder Waren zu verzeichnen. Solche Bücher enthielten auch Abschriften von Rechtstiteln und Verhandlungen, wenn es um Lehen, Erbschaft oder Eigentum ging. Die Siegel, die darin verwendet wurden, bestanden aus einem einfachen Band und dem Wachsabdruck eines Rings.
Riwalin hatte, noch bevor er nach Britannien aufgebrochen war, mehrere solcher Bücher anfertigen lassen. Damals vertraute er seinem Marschall die Obhut über ganz Parmenien an. Damit alles mit rechten Dingen zuging, trafen Riwalin und sein »Getreuer«, wie er Rual liebevoll nannte, eine Abmachung: Der Marschall sollte Buch führen, »um des späteren Nachweises der Richtigkeit aller Handlungen willen«.
Rual hielt sich daran. Für jedes Jahr hatte er ein Buch vollgeschrieben und darin alles Amtliche, jeden Handel, jeden feindlichen Übergriff, gute und schlechte Taten akribisch aufgezeichnet, manchmal sogar seine Gedanken. Als dann Riwalin nach seiner langen Abwesenheit aus Cornwall von König Markes Hof überstürzt und in Begleitung von Blancheflur zurückkehrte, legte ihm Rual die Bücher vor. Ein einziges Buch war leer geblieben. Riwalin, beeindruckt von der Loyalität seines Marschalls, ließ das Buch neu in rotem Leder aufbinden und schenkte es Rual als Zeichen der Dankbarkeit für seine Treue.
Monate danach geschah dann das große Unglück. Noch am Tag nach Tristans Geburt musste der Werkmeister Henn Halden den Einband mit einem goldenen Zeichen versehen, das Rual aufgemalt hatte. Halden sagte er, es sei ein kurzes Schwert. Nachdem der Werkmeister die Arbeit ausgeführt hatte, zog sich Rual in den Großen Saal zurück, kratzte mit der Spitze seines Dolches den Schwertgriff weg, und so entstand als Zeichen ein »T«. Danach holte er Tinte und Feder und begann aufzuschreiben, was in der Vergangenheit geschehen war. Als titulus setzte er an den Anfang die Worte: Riwalins Geschichte.
Seufzend lehnte er sich zurück. »Von nun an«, sagte er damals leise, »werde ich keine Haushaltsbücher mehr führen. Das überlasse ich anderen, Jetoullet, dem Kämmerer, zum Beispiel. Ich dagegen will ein Erinnerungsbuch. Ich werde notieren, was ich selbst gesehen und gehört habe und was Riwalin mir mitgeteilt hat. Das ist mein Andenken, das Zeichen meiner Verehrung des einzigen Königs, zu dem ich je aufgeschaut habe.« Insbesondere dachte er aber daran, dass Tristan, der rechtmäßige Nachfolger Riwalins, vielleicht eines Tages doch die Herrschaft über Parmenien zurückgewinnen würde und im Namen seiner Herkunft um Auskunft bäte. Dann könnte er seinem Ziehsohn, den er liebte, wie er dessen Vater geliebt hatte, das
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