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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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»Buch T« in die Hände legen. »Ich werde ehrlich sein«, versprach Rual sich selbst, »aufzeichnen, was war oder wie es gewesen sein soll. Was ich nicht wissen kann, will ich nicht vermuten, was ich mir denke, bleibt in meinem Herzen. Gott wird mein Zeuge sein.«
    Von diesem Tag an verbrachte Rual die Nächte, die ihm frei blieben, im Großen Saal und schrieb die historice auf. So verzeichnete er die feierliche Grablegung von Riwalin, Blancheflur und - zum Schein - ihrem namenlosen, tot geborenen Fötus genauso wie die unmäßigen Forderungen Morgans: monatliche Abgaben und Wiedergutmachungen, die den üblichen Zins manchmal um ein Zehnfaches überstiegen. Tristan sollte einmal alles wissen.
    In den Jahren, die folgten, als Tristan zu krabbeln und zu sprechen begann, als seine Geschicklichkeit zunahm und er verständiger wurde, bemühte sich Rual darum, sein Vorhaben nicht zu vernachlässigen. Und mit diesen Jahren wurden der leeren Blätter immer weniger. Bis er eines Tages in der Gegenwart angekommen war und seine Verwunderung darüber aufschrieb, dass Tristan sich das »Buch T« hatte bringen lassen wollen. Der Junge konnte zwar noch nicht lesen, doch Rual wusste, wie begabt er war, wie mühelos er fremde Sprachen imitierte und wie einschüchternd er sein konnte, sodass sogar Morgans Bluthunde davongeritten waren. Deshalb ließ Rual von nun an das Buch nicht mehr auf dem großen Tisch liegen, sondern versteckte es zwischen anderen auf einem hohen Regal. Er hörte mit seinen Eintragungen auf, denn Tristan war nur klug genug geworden, sich an sich selbst zu erinnern. Stattdessen begann Rual, hin und wieder das »Buch T« hervorzuholen und zu überprüfen, was er in den vielen Nächten der Vergangenheit aufgeschrieben hatte.
     
    Riwalins Geschichte ~24~ Die Jagd
     
    Es war meist spät in der Nacht, wenn Rual, auf dem Tisch eine Handvoll flackernder Öllämpchen, in dem Buch blätterte. Die ersten Seiten überschlug er. Auf ihnen stand ein langes Gebet zu Ehren seines Königs, eine Klage über seinen und Blancheflurs Tod, ein Flehen, Gott möge Morgan in der Hölle auf ein glühendes Rad binden und dem Neugeborenen Kraft, Mut, Güte und den Willen »zum gerechten Recht« mit auf seinen Weg geben. »Gelobet seist Du, Herr«, schloss das Gebet, »wer Dein Wort nicht achtet, sei verdammt.«
    Nach dem Gebet begannen Ruals Aufzeichnungen mit Erinnerungen an den Tag, als Riwalin Parmenien verließ. Der junge König war damals siebzehn Jahre alt. Rual wusste nicht, in welchem Jahr nach dem Herrn er selbst geboren worden war. Vielleicht war er zwei, drei Jahre älter als sein König gewesen, niemand hätte es genau sagen können, an Alter schienen sie gleich. Doch Riwalin war eine ritterliche Erscheinung, Rual nur ein Mann von eher gedrungener Gestalt, der sich bemühte, seinem Herrn stets treu zu dienen.
    Ich habe ihn verehrt, las er, wie man nur einen Gott verehren darf. Das war eine Sünde. Bis heute habe ich sie niemandem gebeichtet. Und schäme mich dessen nicht. Waren nicht alle, denen der junge Herrscher begegnet ist, ihm schon beim ersten Anblick verfallen? Alles an ihm war von Ebenmaß bestimmt, seine beiden Gesichtshälften spiegelten sich ineinander, seine Augen strahlten, als könnten sie nur Gutes sehen und sich an der Welt freuen. Nach manchen Nächten, die er durchgeritten war, um seinem Volk zu helfen und zur Seite zu stehen, schien er voller Müdigkeit zu sein, aber es war auch ein Ausdruck des Mitleidens und der Geduld darin, der hoffnungsvoll getanen Arbeit, der voraussehenden Kümmernis, der Liebe in den Gedanken um die Notleidenden. Nie war diese Müdigkeit von Bitternis oder Gram entstellt, sondern erschien immer als eine edle Form natürlicher Ermattung. Meist erholte sich mein König schnell, war anderntags wieder voller Kraft und Ausgelassenheit und Übermut, von dem er ein Quantum zu viel besaß.
    Rual hob den Kopf und starrte in den Schein der Öllämpchen, die die aufgeschlagene Seite beleuchteten. In den von seinen heftigen Atemzügen zum Tanzen gebrachten Flammen glaubte er die Lebhaftigkeit Riwalins wiederzuerkennen. Nie würde er vergessen, wie sie einmal einen Hirsch durch einen niedrigen Eichenwald jagten und das Tier den Jägern durch einen verzweifelten Sprung über einen breiten Graben entkommen wollte. Da arretierte Riwalin sein Pferd im rasenden Galopp, sprang von dessen Rücken und hatte schon den Pfeil auf den scheinbar wie von selbst gespannten Bogen gelegt. Der Pfeil schwirrte

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