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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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für den Gang des täglichen Lebens, so lange, wie der Burgherr abwesend wäre. Ob er dazu ein Recht hatte, darüber dachte er keinen Augenblick lang nach. Er handelte einfach. Wie hätte er ahnen können, dass er diese Aufgabe tatsächlich viele Jahre lang ausfüllen würde? Noch wundersamer aber war, dass niemand auf Conoêl, nicht Linnehard oder etwa Gerbert, der für die Lagerhaltung zuständig war, nicht Curtius, der Klosterbruder, oder gar Merla, die Magd, jemals auch nur einen einzigen Augenblick daran zweifelten, dass Thomas, »der Handelsmann«, wie Floräte ihn anderntags ihren Leuten vorstellte, »ein Geschenk des Himmels« sei, von Gott gesandt, um das Wohlergehen Conoêls im Sinne des Marschalls weiterzuführen, bis alle Aufgaben nach seiner glücklichen Rückkehr wieder in dessen Hände zurückfielen.
    Solche Worte kamen Floräte am nächsten Morgen nach einer Nacht, die sie im tiefen Schlaf verbracht hatte, wie von selbst in den Mund, kaum dass sie Thomas wiederbegegnet war. Ihr Vertrauen und ihre Zuversicht waren so grenzenlos, dass ihr Gesicht bei allem Kummer, der in es eingezeichnet war, fast zufrieden wirkte. Die Last des Ungewissen lag noch immer auf ihren Schultern. Sie nicht allein tragen zu müssen und in Thomas einen ehrlichen Verbündeten zu wissen, ließ sie aufatmen.
    »Als Erstes«, sagte sie zu ihm, nachdem sie sich an der fetten Suppe gekräftigt hatte, »zeige ich dir die Burg mit allem, was dazugehört. Dann gehen wir in den Großen Saal und sprechen über die Pflichten, die auf uns zukommen. Es muss weitergehen hier auf Conoêl.«
     
    Dunkle Enge ~ 174 ~ Contragedanken
     
    Ob Nacht oder Tag - Tristan und Courvenal konnten in der dunklen Kammer unter Deck bald keine der Zeiten mehr unterscheiden. Dann und wann öffnete sich die Luke, dämmriges Licht traf sie oder der Schein einer Lampe, und ein Eimer wurde zu ihnen hinuntergelassen. Darin befanden sich meist ein Zinnkrug mit abgestandenem Wasser und ein paar Kanten Brot oder getrocknetes, gesalzenes Fleisch. Denselben Eimer füllten sie, wenn es nötig war, mit ihren Exkrementen auf, um die Kammer nicht gänzlich zu verunreinigen.
    Am geringen Schlingern des Bootes merkten sie, dass es gute Fahrt zu machen schien, und da das Wasser gleichmäßig rauschte, mutmaßte Courvenal, sie befänden sich weit draußen auf dem Meer. Das machte jeden Versuch, sich aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, sinnlos. Tristan verhielt sich tapfer, klagte nicht und gab vernünftige Antworten, wenn Courvenal ihn, um ihn in der Gegenwart zu halten, nach seinen Gedanken fragte.
    »Ich habe mir gerade vorgestellt«, sagte Tristan daraufhin einmal, »wie sich wohl Vater und Mutter verhalten haben, als ihnen klar geworden war, dass wir uns nicht mehr am Hafen befanden. Floräte ist sicher in Tränen ausgebrochen und hat jammernd die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Wahrscheinlich hat sie auch gleich befohlen, Edwin und Ludvik sollten ihr gebracht werden, und von da an hat sie meine Brüder nicht mehr von ihrer Seite gelassen. Rual hingegen hat sofort reagiert und seine Reiter ausgeschickt, um nach uns zu suchen. Sie ritten von Hütte zu Hütte und klopften an die Türen, doch stets kam ihnen nur ein Kopfschütteln entgegen. An die Schiffe und das Meer hat er nicht gedacht. Er glaubte, dass wir jemand getroffen hätten und bei ihm, die Zeit vergessend, sitzen geblieben wären. Er vermutete das, was er selbst in unserer Situation getan hätte, als unsere Handlung.
    Erst als alle seine Nachforschungen erfolglos waren, dachte er daran, dass wir uns auf einem der Schiffe befinden könnten. Also schickte er seine Leute zu den Anlegestellen und Ankerplätzen. Doch leider blieb auch die dortige Suche ohne Ergebnis. Und erst jetzt, nachdem Stunden vergangen sind, verfällt er darauf, dass uns jemand entführt haben könnte. Angst und Erschrecken lähmen die Vernunft und das logische Denken, wie es uns Aristoteles vorgeführt hat. Sie begrenzen den Blick auf das Nächstliegende. Das Meer verführt uns dazu, seinen Horizont abzusuchen, dorthin zu blicken, wo für uns die Welt zu Ende ist. Doch das tun wir nur, wenn wir uns als das Gegenüberliegende, das andere Ende dieses Horizonts empfinden. Wir vermuten, dass sich dahinter noch etwas verbirgt, von dessen Gestalt und Wirken wir nichts ahnen. Solches Denken beweist, dass wir klug sind. Im Erschrecken liegt nur Instinkt. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass Rual nicht ein einziges Mal, als er davon erfuhr,

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