Tristan
wir seien vermisst, seinen Blick über die Köpfe seiner Leute hob und in die Ferne sah. Dann hätte er nämlich das schwindende Segel des Bootes entdecken müssen. Stattdessen starrte er in die vor Furcht aufgerissenen Augen seiner Reiter und erblickte darin die eigene Angst. Er erteilte seine Befehle, reagierte mit gebieterischen Anweisungen, hätte aber am liebsten seine Frau umarmt und sie getröstet. Hätte er es nur getan, erst zu fühlen und danach zu denken, säßen wir jetzt nicht hier in diesem Boot in einem Loch, umgeben von Dunkelheit und Gestank, eingehüllt in unsere schmutzigen Kleider, hoffnungslos und allein gelassen.«
Courvenal schwieg auf die mutige Rede des jungen hin, den er nur als Schatten wahrnehmen konnte, dessen Stimme aber ernst und entschlossen klang. So spricht man eher, dachte Courvenal bewundernd, wenn man ruhig an einem Tisch sitzt und über ein aufgegebenes Thema disputiert, nicht aber in einer Situation, in der man fremden Kräften ausgesetzt ist.
»Glaubst du denn«, fragte er Tristan, in die Dunkelheit hineinredend, »dass du anders als Rual gehandelt hättest, wärst du an seiner Stelle gewesen und es wäre dir von deinen Leuten gemeldet worden, dein Vater wäre vermisst? Hättest du über die angstvollen Blicke, mit denen man dich angesehen hätte, hinausgeschaut aufs Meer, um ihn dort, am unwahrscheinlichsten Ort, den man sich vorstellen kann, wenn man mit beiden Füßen auf festem Grund steht - um ihn dort zu suchen? Würdest du von dir behaupten, der Schrecken hätte dich nicht gelähmt, sondern Vernunft wäre an die Stelle deiner Gefühle getreten, ohne erst danach in dir suchen zu müssen und der Zeit ihr Recht zu geben zu vergehen, bevor man in ihren Lauf eingreift?«
»Die Zeit war nicht der Kern meiner Frage. Was haben unser Nachdenken oder unser Mitempfinden mit dem stetigen Rinnen der Sandkörner zu tun, wenn wir ein Stundenglas umdrehen?«
»Danach habe ich nicht gefragt, Tristan.« Courvenal wollte weiterreden, versuchte aber zuvor, soweit es in der niedrigen Kammer seine hockende Haltung zuließ, eine bequemere Position einzunehmen, indem er sich mit der rechten Schulter gegen einen Sparren lehnte und die angewinkelten Beine ein wenig streckte. Dabei stieß er gegen Tristan, gegen seine Knie oder seinen Unterleib, das konnte er nicht unterscheiden. Tristan gab einen leisen, aufstöhnenden Laut von sich. Gleich winkelte Courvenal die Beine wieder an und murmelte eine Entschuldigung, die Tristan mit einer ebensolchen erwiderte.
»Hab ich dir wehgetan?«, fragte Courvenal daraufhin.
»Nein doch!«
»Aber ich habe dich gestoßen.«
»Ein wenig.«
»Hast du daran gedacht, warum ich dich gestoßen haben könnte?«
»Gewiss. Enger kann es ja nirgends sein.«
»Und warum hast du gestöhnt?«
»Weil…«
»Also warum?«
»Ich habe einen Druck in mir, und den hast du gesteigert.«
»Welchen Druck?«
»Ich muss urinieren«, sagte Tristan kleinlaut.
»Auch eine Art, sich zu erleichtern«, fiel ihm Courvenal ins Wort, konnte ein meckerndes Lachen nicht unterdrücken und setzte hinzu: »Wenn du’s machst, gib mir Bescheid. Oder strunz mir am besten auf die Füße, damit sie ein bisschen warm werden.«
»Und deswegen lachst du?«
»Nicht deswegen, sondern weil du eben gerade bewiesen hast, dass du auch nicht über deinen eigenen Horizont hinausblicken kannst. Du bist nicht anders als Rual. Auch du hättest zuerst in den Hütten nach ihm gesucht, wenn er plötzlich verschwunden wäre. Und innerlich hättest du um ihn geweint wie deine Mutter jetzt um dich.«
»Was hat das damit zu tun, dass ich strunzen muss?« Tristan wurde laut, und seine Stimme, die in letzter Zeit einen männlichen Ton bekam, hatte einen gereizten Klang.
»Beruhige dich«, sagte Courvenal, zog seine Beine gänzlich an den Leib und lehnte sich mit der linken Schulter wieder an den anderen der Balken, von denen er eingeschlossen war. »Und merke dir ein für alle Mal: Unsere Gefühle beherrschen unser Denken, nicht umgekehrt. Wenn es uns anders erscheint, geschieht dies nur als Echo. Oder in Büchern, in denen sich die Gedanken nicht mehr verrücken lassen. Wie bei deinem Aristoteles, den du so über alles liebst.«
»Dein Platus ist wohl ganz anders.« In Tristans Stimme lag etwas Verächtliches.
»Plato, mein Lieber, nicht Platus«, sagte Courvenal. Da hörte er ein Seufzen aus Tristans Ecke und spürte gleich danach an seinen Füßen eine warme Flüssigkeit, die um sie herumrann bis zu
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