Tristan
als würden sie dabei auf seinen Kopf treten. Er überlegte, wie weit seine eigenen Füße von ihm entfernt waren. »Wo bin ich eigentlich ich?«, murmelte er und dachte an seine Zehen, die ihm manchmal wie verkümmerte Krallen vorgekommen waren. Doch Courvenal schien ihn gehört und verstanden zu haben. »Nur in deinem Gott bist du du selbst!«
»Welchen Gott meinst du?«
»Es gibt nur einen. Er wird dich retten, ich weiß es.«
Er weiß es, dachte Tristan und sackte in sich zusammen. Daher spürte er nicht einmal, wie sie ihn aus der Kammer herausholten, die Leiter hinaufschleiften, ins Beiboot legten und den Kahn vom Schiff mit ihren nackten Füßen abstießen, damit die beiden Boote sich voneinander entfernten. Die See war glatt wie das Wasser in einer Schüssel, ein bleierner dunstiger Himmel lag über dem Meer, es gab keinen Wind. Das Boot hatte nicht einmal Ruder.
»Vielleicht ist wirklich ihr Gott daran schuld, dass uns erst der Sturm fast das Boot zerschlagen hätte und wir jetzt in einer Flaute stecken, die mich zum Wahnsinn treibt«, hatte Jonas, der Schiffsführer, gesagt. Deshalb hatten sie sich dazu entschlossen, den Jungen auszusetzen. Der Mönch sollte bleiben, der Papst hatte viel Geld und bezahlte für alle seine Jünger. Aber das kintl Wenn der Marschall von Conoêl es verlor, hatte er immer noch zwei andere - so viel wusste Jonas. Und die Frau des Marschalls war jung genug, dem Alten noch ein paar Söhne zu gebären. Wozu anders war sie da?
»Holt ihn hoch, setzt ihn aus!«, hatte er deshalb entschieden und den Bewusstlosen eigenhändig in den Kahn gelegt. Einer seiner Seeleute wollte ihm einen Schlauch mit Wasser und einen Kanten Brot mitgeben, doch das hatte Jonas verboten. »Was Unglück bringt, darf man nicht ernähren«, sagte er, kehrte dem abdriftenden Kahn den Rücken zu und stapfte mit schweren Schritten zum Bug seines Bootes. Kaum befand er sich dort, schlug das Segel an. Wind kam auf, trieb sie fort und nahm das übermütige Lachen des Schiffsführers mit sich.
Tristan hörte es nicht und spürte auch nicht das Wasser unter sich, das gegen die Wände seines Kahns zu schwappen begann. Als er erwachte, trieb er auf eine Küste mit steilen Felsen zu.
Stranden ~176~ Im Herzen
Anfangs glaubte er zu träumen. Um ihn herum war es still, in der Ferne hörte .er das Tosen der gegen das Ufer schlagenden Wellen. Der Kahn schaukelte im Auf und Ab des Meeres langsam auf das Land zu, bis sich dort das gestaute Wasser brach und allmählich die Fahrt des Schiffchens beschleunigte.
Tristan hatte bislang nur ab und zu den Kopf über die Bootswand gehoben, erst um nach dem Segel der Norweger Ausschau zu halten, dann aber, als er es auf dem Meer nirgends entdecken konnte, nahm er die felsige Küste in Augenschein. Da er in der dunklen Kammer unterm Bootsdeck alles Gefühl für die Zeit verloren hatte und sich die Wellen unterm trüben Himmel in alle Richtungen zu verteilen schienen, hoffte er wenigstens am Relief des felsigen Ufers auszumachen, in welcher Gegend Parmeniens er stranden würde. Denn davon ging er aus: dass er sich noch immer auf dem Meer vor der normannischen Küste oder der Bretannie befand. Allzu lange konnte er aber nicht nach dem Land schauen. Sein Körper war zu ermattet, sein Kopf schwer, und so sank er nach einigen kurzen Ausblicken immer wieder schnell auf die nackten Planken des Kahns zurück.
Gegen Abend erwachte er ein zweites Mal, diesmal von den heftigen Schlingerbewegungen des Bootes und von dem Fauchen des Wassers. Als er den Kopf hob, erblickte er vor sich eine zerklüftete Bucht voll scharfkantiger Felsen, die im schattigen Licht wie die Zähne eines riesigen Monstrums aussahen. Um sie herum schäumte wie Speichel das aufgewühlte Wasser und spritzte die Gischt über sie hinweg.
Tristan erkannte die Gefahr, in der er sich befand. Würde sein Kahn gegen solch einen Felsen geschleudert, würde er in hundert Stücke zerbrechen. Mit letzter Kraft kroch er an den Bug des Bootes und wartete den Aufprall auf einen der Felsen ab. Kurz bevor dies geschah, stürzte er sich kopfüber ins tosende Wasser und schwamm mit wilden Armschlägen mit der Bewegung der Wellen mit, bis er Grund unter seinen Füßen spürte. Doch der bucklige Felsen, auf dem er gestrandet war, schien von Muscheln bedeckt zu sein, die ihm durch die Sohlen seiner leichten Schuhe in die Füße schnitten. Da er keinen Schmerz fühlte, richtete er sich unbedacht auf, wurde von einer Welle
Weitere Kostenlose Bücher