Tristan
alles, was unter dem Tisch geschah, wie eine Nebensache und doch so bestimmend, dass er die Augen schloss, als die Frau ihren Kopf auf seine Schulter legte und sich zurücklehnte, denn diese Wohltat, die er in sich verspürte, löschte in ihm alle seine Vorsätze aus.
Als er im Begriff war, sich besinnungslos der Berührung hinzugeben, verspürte er einen Schlag gegen die Schläfe und wachte erst wieder im Licht des Morgengrauens auf. Er verspürte Schmerzen, doch niemand schien ihn malträtiert zu haben. Als er sich aufrichtete, fand er auch noch alle Kleider an sich. Unter ihm aber wuchs Gras, nicht weit von ihm lag ein Haufen mit verkohlten Balken, mit dem Rücken konnte er sich an Mauerreste lehnen. Später wusste er, dass man ihn ein ganzes Stück Wegs aus Develin herausgebracht haben musste, um ihn an irgendeiner Wegbiegung liegen zu lassen. Der Beutel mit den Münzen war verschwunden, auch sein Dolch, Tristans Dolch, wie er sich schmerzlich erinnerte. Er hatte also nichts mehr als die Kleider, die er am Leib trug. Auch den Gürtel hatte man ihm gelassen, darin eingenäht Blancheflurs Ring, und hatte wohl auch nicht erkannt, dass die Fibel, die er lange nicht geputzt hatte, aus purem Gold war.
Wenigstens etwas, dachte Rual, woran man ihn erkennen konnte. Ihm war klar, dass er von nun an seinen weiteren Weg wie ein Bettler oder Pilger selbst würde suchen müssen. Warum ihm dies widerfahren war, das schwor er sich, würde niemand jemals erfahren, jedenfalls nicht aus seinem Munde. Er hatte sich vor dem Herrn nichts Schlimmes vorzuwerfen. Was ihm geschah, war ihm zugefügt worden. Mit solchen Gedanken beschwichtigte er sein Gefühl der Schuld.
Viel bedrückender war für ihn, dass sein Ziel, Tristan zu finden, offenbar in endlose Ferne gerückt war. Er konnte dankbar sein, dass man ihn nicht einfach erschlagen und begraben hatte, und er ahnte nicht einmal, in welche Richtung er sich wenden sollte: nach Osten, wo er den Hafen vermutete, oder nach Süden, um Schritt für Schritt dem eigenen Land näher zu kommen. Vor sich erblickte er nichts als Hügel, auf denen Gras wuchs, angrenzend an geduckte Wälder, Gestein und Senken, in denen sich das Wasser in Bächen sammelte.
Rual wandte sich nach Süden. Wenn er jemandem begegnete oder an ein Gehöft kam, bettelte er und gab sich als heiliger Pilger aus. Er sprach dann Lateinisch, was viele Leute davon überzeugte, dass er kein Scharlatan war. Manche bezeichneten ihn als Mönch, bis er schließlich selbst der Überzeugung war, einer zu sein. Längst nannte er sich Paulus, denn mit dem Namen Rual konnte niemand etwas anfangen.
Auf seinem Pilgerweg gelangte er bis in das Königreich Gurmûns, fand sogar bei Klosterbruder Benedictus eine Unterkunft, sah einmal die Königin des Landes, Isolde, wie sie im Gefolge von zwei Zofen von einer Druidenversammlung kam, worüber sich Benedictus sehr herablassend äußerte. Rual mochte diesen Mann nicht. Er hatte etwas Unwahres an sich, strich sich dauernd über die Stirn, als seien dahinter viele wichtige Gedanken, die er einem kleinen Pilger nicht mitteilen wollte. Was er über Königin Isolde und ihre Tochter Isôt erzählte, »die schönste puellae auf ganz Erui«, hörte Rual wie nebenbei. Er blieb und ertrug all die Reden und aus Satzfetzen zusammengemischten Gespräche nur, um wegzukommen von dieser Insel, die ihm zu einem Gefängnis wurde. Bei seinen Wanderungen über Land war er immer wieder ans Meer gestoßen wie an eine flüssige, unüberwindliche Mauer. Das machte ihm Angst.
Das gesamte Leben des Benedictus, der mit seinen Mönchen und Büchern in einem unterirdischen Gewölbe hauste und hauptsächlich dafür sorgte, dass es ihm leiblich gut ergehe, erschien ihm eingeschränkt auf ein paar lateinische Redewendungen. Es gab ein paar Nächte, da öffnete sich der Mönch ein wenig, beflügelt vom sauren Wein, von dem er zu viel genossen hatte. Er protzte mit seiner Kenntnis über die Vorgänge im Königshaus, erwähnte die unmenschlichen Machenschaften Gurmûns, der sich alle vier Jahre junge Britannier von der »anderen« Insel holte zur Verstärkung seiner Reiterschaft.
»Stell dir vor, Bruder Paulus«, sagte er an einem dieser trüben Abende, die sie in dem höhlenartigen Kloster bei einem Krug Wein verbrachten, »du hättest solch einen Sohn, der dir plötzlich von deiner Seite geraubt wird, nur weil die Schuldvereinbarungen zwischen zwei Fürsten es so wollen. Zins auf Güter oder auf Münzwerte wie bei den Juden
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