Tristan
weiterziehen müssten nach Süden zu einem Wallfahrtsort. Ein Wunder sei dort geschehen und ein Kloster gegründet worden, es heiße … Rual verstand den Namen nicht mehr. Als er wieder erwachte, war er allein und fand bei seinem Lager die Holzschale gefüllt mit Brot und daneben einen Krug Wasser.
Da er nun ein neues Ziel hatte, setzte er alles daran, nach Britannien zu gelangen. Auf seinem Weg entlang der Westküste Danmarks, nahm er jede Arbeit an, die ihm Essen und Trinken einbrachte und einen Schlafplatz im Stall. Er beschaffte sich auf einem Markt eine Nadel und auf einem anderen eine Rolle Zwirn und begann, erst seine zerschlissenen Kleider notdürftig zu flicken und dann neue zu nähen, die er aus Stoffresten zusammenstückelte. Da er am Wegrand immer wieder auch Tote liegen sah, die verhungert oder erstochen worden waren, bereicherte er sich auch an den Verstorbenen. Etwas Unrechtes zu tun, kam ihm nicht in den Sinn. Er tat es für Tristan, den er endlich finden und dem er sagen musste, dass er der rechtmäßige Erbe von Conoêl war.
Die Menschen schlugen sich gegenseitig tot unter Gottes Auge, das wusste Rual gut genug, aber es wäre eine Schande, jemandem seine wahre Herkunft zu verheimlichen. Ein paar Tage bevor Tristan entführt worden war, hatte er noch mit Floräte darüber gestritten, wann sie Tristan endlich mitteilen würden, wer seine Eltern waren. Floräte wollte nicht, dass der Junge die Wahrheit erführe. Sie wollte alles beim Alten belassen. Auch Rual überlegte, ob dieser Weg nicht doch der beste wäre. Aber es drückte ihn die Schuld der Lüge. Und diesen Druck, der nie von ihm gewichen war, auch während der langen Reise nicht, auf die er Courvenal mit seinem Ziehsohn geschickt hatte, diesen Druck wollte er jetzt ein für alle Mal loswerden, um seinem Gott beim jüngsten Gericht aufrecht gegenübertreten zu können. Durch die Worte der Pilger, die ihn gerettet hatten, fand er zu seiner Kraft zurück. Als er einmal in einem angeschimmelten Lederbeutel, den er in einem Graben fand, zwei Moritzpfennige entdeckte, nahm er dieses Geschenk als einen Hinweis Gottes, dass er auf dem richtigen Weg sei.
Am Hafen von Hennemcel fand er schließlich ein Boot, das ihn bis an Cornwalls Küste brachte. Zehn Tagewege später trat er aus einem Waldstück und sah die Burg Tintajol auf den Hügeln. Sie strahlte weiß, als hätte Salzwind sie geputzt. Jeden Schritt, den er den schmalen Pfad hinaufging, genoss er. Eile verspürte er nicht. Das Ziel, so kam es ihm vor, war in ihm selbst, er begleitete es nur. Es mochte der Monat April oder Mai sein, die Kirschblüte hatte begonnen und verschönerte seine Hoffnung. Seitlich des Hangs auf einer flachen Erhebung jenseits der Bäume sah er, dass Zelte errichtet wurden. Knechte und Knappen halfen dabei, aber es gab kaum Pferde und keine Reiter. Stattdessen liefen Frauen hin und her, Lautenspiel war zu hören und eine Fidel.
Man bereitet ein Fest vor, dachte Rual, doch nicht etwa zu meiner Ankunft? Er lachte innerlich bei dem Gedanken, sah an sich hinunter und musste feststellen, dass seine Kleidung so bunt war, dass er sich am besten als Spielmann oder Zauberer ausgeben sollte, um in die Burg zu gelangen.
Am Tor nannte er seinen richtigen Namen. Die Wachen hielten ihn wohl für den eines Gauklers. So kam er bis auf den Marktplatz. Den ersten besten, dem er begegnete, fragte Rual nach Tristan: »Ist Herr Tristan bei Hofe?«
»Certain! Aber du wirst ihn wohl kaum singen hören!« - Diese Worte verhallten in Ruals Ohr, weil er schon weitergegangen war, seinem Ziel entgegen. Ganz gleich, wie er aussah und auf andere wirkte, er würde Tristan finden, diesen einen »Tristan«, und wenn es »der« nicht wäre, beschloss er, würde er seinem Leben ein Ende setzen, weil es keinen Wert mehr hätte, nicht einmal vor Gott.
In der Menge ~ 186 ~ Vor der Kathedrale
Es war am Morgen eines Sonnabends, an dem Rual auf dem großen Innenhof von Tintajol ankam. Wolken flogen über den Himmel, und einige davon schienen die beiden Türme der Kathedrale zu berühren. Seit Langem hatte er nicht mehr so viele Leute um sich herum gesehen. Es waren Bauern und Knechte, fahrende Gesellen oder Kinder, alles mischte sich und lief durcheinander. Nur um König Markes Soldaten herum war immer genügend Raum, weil man von ihnen Abstand hielt.
Da Rual nichts zu verlieren hatte, drängte er sich an eine Gruppe von ihnen heran und wollte wissen, was der Aufruhr bedeute. Einer von den
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