Tristan
Wachleuten verstand das Wort Rumor und ging gleich mit der Hand am Schwert auf ihn zu. »Was willst du, wer bist du, kannst du dich ausweisen?«, fuhr er Rual an. »O wie schön«, erwiderte Rual, »du sprichst meine Sprache und insofern auch die des Herrn Tristan.«
Diese Äußerung beschwichtigte den Soldaten. Die zerlumpte Gestalt, der er gegenüberstand, schien ihm nicht recht zu den wohlgewählten Worten zu passen, die aus seinem Mund kamen. So gerieten die beiden ins Gespräch. Rual erfuhr, dass gleich die Messe in der Kathedrale gelesen werde und man König Marke erwarte mit seinem Gefolge. Auch Tristan wäre sicherlich dabei, weil er dann Teile der Schrift singe. Es hieß bereits, die vielen Leute, die zu der Messe kämen, wären nicht Gottes wegen hier, sondern um Tristans schöne Stimme zu hören. Statt Lobgesänge auf das heilige Leben des Jesus Christus könne er genauso gut auch von der Liebe unter den Sterblichen singen oder mit seiner Laute die Melodien spielen: Immer würden neue und nie zuvor gehörte Klänge unter das Dach der Kathedrale aufsteigen, und jeder wollte der Erste sein, der sie vernähme. Da die Einfachen, die Marktleute, Knechte und auch die Soldaten, nicht in die Kathedrale mit hineindürften, ließe man wenigstens das Portal offen, und selbst von Ferne sei der Gesang wie ein Zauber.
»Bleib also in meiner Nähe«, sagte der Soldat zu Rual, »dann kannst du daran teilnehmen.«
»Ich bin sein Vater«, entfuhr es Rual.
Der Soldat lachte auf und wandte sich ab, weil sich König Marke mit seinem Gefolge näherte und die Leute ihn durch Rufe würdigten. Wie in einer Prozession schritten die Herren dem Eingang der Kathedrale entgegen, Soldaten flankierten sie, und Rual ahnte, dass er nur jetzt eine Gelegenheit hatte, auf sich aufmerksam zu machen. Es könnte seinen Tod bedeuten, er wagte es gleichwohl, rannte an dem Soldaten vorbei, warf sich vor den hohen Herren auf die Erde und rief dabei immer wieder: »Tristan, mein Sohn, Tristan, mein Sohn!«
Sofort stürmten die Soldaten herbei, hoben ihre Lanzen, umstellten schützend den König, und andere warfen sich gleich auf Rual, weil sie fürchteten, dass er eine Waffe bei sich trüge. Rual konnte nicht verhindern, dass sie ihn fesselten, sie konnten ihm aber so schnell nicht seinen Mund verschließen, und er rief weiter nach Tristan, seinem Sohn.
Honigbrot ~ 187 ~ und Lanzen
Tristan war an diesem Morgen wie immer von einer der Mägde geweckt worden. Dies geschah, indem die schweren Tücher vor seinem Bett weggezogen wurden. Danach fand er sich allein in seiner Kemenate. Durch das kleine, mit Blei eingefasste Fenster war schon das helle Licht des Tages zu sehen. Er wusch sich, kleidete sich an, trank Wasser und aß ein wenig von dem Honigbrot, das man für ihn bereitgestellt hatte. Auf dem Tisch fand er die Blätter, die er in der Nacht bei Lampenschein beschrieben hatte, mit Versen, die er an diesem Morgen in der Kathedrale singen wollte. Er huldigte darin der Jungfrau Maria, aber er hatte sie in der Sprache der Mauren aufgeschrieben und in den Worten, die wohl kaum einer von den Anwesenden würde verstehen können, seine Liebe und Ehrfurcht zu seiner Mutter Floräte versteckt.
In einem zweiten Teil, den er zum Vortrag bringen wollte, ging es um den Kampf des Seemanns mit dem Meer. Dabei benutzte er das Lateinische und hatte an Courvenal gedacht. Er wünschte ihm, alle Stürme zu beschwichtigen, wie nur Jesus es hätte tun können. Freies Meer, entscheide dich, hatte er geschrieben, Wellen treiben dich, und alle kommen auf mich zu. Gottes Meer, du rettest mich, denn mein Ufer, das bist du. Es hatte ihn gereizt zu schreiben: Wellen … kommen zu auf mich … denn mein Ufer, das bin ich - doch das reimte sich allzu sehr, und es war ja auch nur ein Scherz. Marke hätte sicher darüber gelacht, weil er ihn verstehen würde. Die Menschen in der Kathedrale hingegen wären ohne Verständnis dafür. Gott und ich durfte man in der Welt, in der er lebte, nicht in eins setzen.
Aber etwas kleines Gewitztes für sich selbst darf man sich wohl noch erlauben, dachte er, als er sein Geschriebenes nochmals überlas. Da pochte der Marschall an die Tür, man müsse zur Kathedrale aufbrechen.
Wenig später waren sie auf dem Weg zum Gotteshaus. Tristan ging ein paar Schritte hinter König Marke und den Baronen, die ihn begleiteten. Leute am Wegrand grüßten ihn, wünschten sich gracieuse Gesänge »von des Königs schönstem Knappen«. Tristan
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