Tristan
sich ausgesetzt hatte, um diesen Moment zu erleben. Sein Glück konnte er nicht fassen, seine Augen suchten nach Tristan, aber sie fielen ihm wie von selbst zu. »Lasst mir ein bisschen Schlaf«, bat er leise, »dann bin ich wieder der, der ich war.«
Tristan beruhigte ihn. »Und noch viel mehr wirst du sein«, flüsterte er ihm zu, »nämlich der, durch den ich geworden bin.« Er wandte sich zu König Marke um, der versucht hatte, ihm über die Schulter zu schauen, um zu sehen, was zwischen den beiden vor sich ging. Viel mehr als die wirren Haare des Fremden konnte sein Blick nicht erhaschen. Doch man konnte ihn riechen: Er stank entsetzlich, und bald würde dieser Geruch im ganzen Raum liegen. Das musste man Tristan sagen. Also räusperte sich Marke und wollte Tristan gerade vorschlagen, dass man den Mann woanders hin verbringen könnte, vielleicht sogar ins Haus der Kranken, damit er genesen könne.
Da drehte sich Tristan zu seinem König um und sagte mit einer Entschlossenheit, die dieser bei dem jungen Mann nur selten wahrgenommen hatte: »Verzeiht Eurem Knappen, mein König, wenn dieser unvorhersehbare Vorfall Euch von Euren Pflichten abgehalten hat, mit den Baronen die Heilige Messe zu besuchen. Ihr könnt mich ganz gewiss hier allein mit meinem Vater lassen. Wenn er wieder bei Kräften ist, und ich denke, das wird schon bald der Fall sein, werde ich Euch alles erklären. Das Glück kann manchmal wie ein furchtbares Erschrecken sein, und das Wunderbare kann uns so viel Angst machen, dass wir glauben, es nicht zu überleben. Doch wenn die Augen nach kurzer Zeit des blinden Erschreckens sich wieder mit Zuversicht öffnen, kehrt schnell die Kraft zurück und mit ihr die Lebensfreude. Mein Vater, ein ehrbarer Mann, schämt sich für seinen Zustand, in dem er sich befindet. Lasst ihm Zeit, seine Würde wiederzugewinnen, und gebt mir die Mittel, ihn nach seinem Stand zu behandeln und auch zu kleiden. Darüber hinaus erweist ihm die Ehre, heute Abend zusammen mit den Baronen und ihren Frauen Euer Gast sein zu dürfen. Tut dies alles ihm und mir zuliebe, und ich verspreche Euch, Ihr werdet in nichts enttäuscht werden. Als Euer Knappe dürfte ich um all das nicht einmal eine leise Bitte äußern. Ich kann aber nicht anders. Seit heute spreche ich nicht mehr nur für mich, sondern auch für einen, dem ich alles zu verdanken habe.«
Marke blickte in Tristans klare Augen, zögerte einen Moment, weil er noch immer nicht recht glauben konnte, wie alles geschehen sein mochte. Dann aber sah er doch den Freund in dem jungen Mann und konnte nicht anders, als ihn zu umarmen. Sein Vertrauen in Tristans Treue war so groß, dass er befahl, allen Wünschen des Knappen Folge zu leisten. Vor der Tür des Gemachs ließ er dennoch zwei Wachen zurück und ordnete an, dass nur den Dienstleuten und Tristan selbst Zugang in das Zimmer gewährt werden sollte. Es blieb in ihm ein Rest an Zweifeln, sosehr er auch versuchte, alles Misstrauen aus sich zu verbannen.
In der Kathedrale war man im heiligen Amt schon weit fortgeschritten, als der König noch hinzukam. Dies konnte nur bedeuten, das morgendliche Ereignis, das unverhoffte Auftauchen des Fremden, habe in der Zwischenzeit eine Erklärung gefunden. Als sich Marke jedoch nach der Messe erhob und vor der ganzen Gemeinde die Barone bat, sich am Abend im Rittersaal einzufinden, erzeugte dies erneut Unruhe und leise Gespräche.
Die Menge ging auseinander, Marke kehrte in den Königssaal zurück. Dort ging er unruhig auf und ab. Er war versucht, nach Tristan zu schauen. Auf den Fluren war viel Bewegung, die Mägde trugen Kleider auf den Armen, dampfendes Wasser wurde angeschleppt, und offensichtlich hatte Tristan sogar schon Anweisungen gegeben, welches Essen für den Abend zubereitet werden sollte. Es roch nach Hammel und gewürztem Brot.
Marke versuchte, sich von all dem abzulenken, und vertiefte sich in eine Schrift, die ihm erst vor einiger Zeit vom Festland als Geschenk des fränkischen Königs gebracht worden war. Sie war reich bebildert und auf Germanisch abgefasst. Mönche hatten sie inzwischen ins Britannische gebracht und an die Seiten auf angeleimten Zusatzblättern den Wortlaut notiert, der in seiner Sprache dem Germanischen entsprach. Es war ein Heft über das Erbrecht, über gerechte Strafen bei Diebstahl und Mord, Ehebruch und teuflische Eingaben. Baron Brengor, der eine Vorliebe für solche Abhandlungen pflegte, hatte ihm dieses Buch zur Schenkung gemacht. Marke ahnte,
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