Tristan
vorwärtskäme. Gurmûn war ein Krieger, der gern Leute totschlug, die sich ihm entgegenstellten. Brangaene hatte den Stock gesehen, in dessen Rinde er einschnitzte, der wievielte Mann ihm zum Opfer gefallen war. Von diesen Kerben hatte sie sogar schon einmal geträumt, jede bedeutete eine verlorene Seele. Hellwach war sie oft aus diesen Träumen neben Isôt aufgeschreckt und versucht gewesen, der jungen Frau über ihre geschlossenen Augen noch ihre Hand zu legen, damit sie auf keinen Fall solches Unheil sähe.
Eine Zeit lang dachte Brangaene tatsächlich, dass ihre eigenen Träume auch in der neben ihr auf dem Lager schlafenden Königstochter anwesend wären. Vor den Träumen hatte sie große Angst. Weil sie sich mit dem Erwachen verflüchtigten, glaubte sie, dass sie am Tag in den Lüften schwebten, um in der Nacht in neuem Gewand und verwandelter Gestalt in ihre anäm zurückzukehren. Besonders schrecklich war der Traum von den Männern. Sie schrien, brüllten, schlugen und bestraften sie. Ihre Zähne waren wie Messer, ihre Hände wie Schrauben, ihre Arme wie Stöcke, ihre Beine Pfähle. Ihre Augen waren das maßlose Fressen, das Verschlingen und Hinunterwürgen, das Vertilgen und Ausrotten. Die Stirn war der Schild, an dem alles abprallte, der Stein, hinter dem sich die bösen Gedanken stauten, um durch die Augen nach außen zu treten.
Vor all dem wollte sie Isôt beschützen und abschirmen. Nie erwähnte Brangaene in Gegenwart der jungen Frau den Namen Tristan. Auch er konnte nur eine dieser männlichen Bestien sein, die breitbeinig herumliefen, tranken, bis sie stürzten - so wie die Reiter auf den Burgfesten und die Männer, die am Hafen herumlungerten. Nur wenn einer der Mönche an den Königshof kam oder ein Druide, blieb sie ruhig, denn das waren für Brangaene keine Männer. Sie glaubten an das Übernatürliche, an den Geist, an die Wunder der Natur, an die Sprache der Steine und die Bilder der Sterne. Das Unfassbare war ihnen nah. Sie kannten die Liebe zu ihren Göttern, eine heilige Liebe ohne Gewalt und Geschrei.
Brangaene seufzte sich in den Schlaf, hörte noch den ruhigen Atem Isôts und schwor sich, ihrem Schützling bis an ihr Lebensende zu dienen. Was auch immer geschehen mochte.
Schreckliches ~193~ Der sprachlose Cill
Kaum ein Monat war vergangen, als neue schreckliche Nachrichten in Isoldes Königshaus drangen. Es hieß, Tristan, der neue König von Parmenien, habe mit seinen Rittern Morgan unterworfen und die alten Lehnsrechte wiedereingesetzt.
»Was heißt unterworfen?«, brauste Isolde auf.
»Das wissen wir nicht genau«, sagte der Kapitän, der die Botschaft überbracht hatte. »Wir durften mit unserem Schiff nicht in den Hafen einlaufen, mussten aber ein paar Knechte aufnehmen, die in einem Kahn geflüchtet waren. Sie berichteten von blutigen Kämpfen. Was mit Fürst Morgan geschehen ist, konnten sie uns nicht sagen. Wenn Ihr es wünscht, kann ich einen von ihnen holen lassen, und er verteilt Euch selbst alles aus seinem eigenen Mund. Vielleicht findet Ihr in dem Wirrwarr seiner Worte deutlichere Zeichen. Auf der Überfahrt hat er allerdings geschwiegen.«
»Wie heißt der Mann, welche Sprache spricht er?«
»Die unsrige. Seinen Namen kenne ich nicht. Er wollte ihn uns nicht sagen. Als wir ihn ins Boot nahmen, redete er nur immer etwas von einer Kugel, die schneller wäre als ein Pfeil aus der Armbrust.«
»Eine Kugel?«
»So habe ich ihn verstanden.«
»Bring mir den Mann. Aber er soll sich erst waschen!«
Einige Zeit später stand ein Knecht vor Isolde, dessen Kleider nur noch aus Fetzen bestanden. Sein Haar klebte ihm feucht am Kopf, sein abgemagerter Körper zitterte. Er hielt den Kopf gesenkt, sodass Isolde seine Augen nicht sehen konnte. Obwohl es ihr zuwider war und sie den Gestank fürchtete, der von ihm ausgehen würde, trat sie auf ihn zu, um ihn dazu zu bringen, sie anzuschauen. In diesem Moment betrat Heggen den Saal und kündigte an, dass ihre Tochter gleich käme - mit ganz neuen Heilkräutern, die sie entdeckt habe.
»Schick sie weg in ihr Gemach«, fuhr sie Heggen an. »Ich will sie nicht sehen .«
»Soll ich ihr das sagen?«
»Tu, was du willst, aber verschwinde von hier. Verschwindet alle!«
Heggen trat sofort den Rückzug an, ebenso der Kapitän. Isolde schüttete aus einem Krug eine dunkle Flüssigkeit in einen Becher und reichte ihn dem Knecht. »Trink das«, sagte sie, »dann wird es dir besser gehen. Das Zeug wird deine Zunge lösen. Rede: Wie
Weitere Kostenlose Bücher