Tristan
ich habe Sir Tristan zurückgeholt. Er muss gleich hier sein.«
»Tristan?« Marke verstand zunächst nicht, worum es ging. In seiner Seele freute er sich, diesen Namen zu hören, aber sein Neffe war zu dieser Stunde völlig fehl am Platz. Und warum war Golsh ohne Weisung aufgebrochen, ihn nach Tintajol zu holen. Wozu?
»Es war, weil ich glaubte …«, stotterte Golsh und senkte den Blick, »er sollte wissen,was …«
»Was sollte er wissen? - Bei Gott, dem Allmächtigen, was hast du getan? Was hast du dir dabei gedacht? Was soll Tristan …?«
Marke kam nicht weiter. Aus dem Dämmerlicht des nur durch einige Lämpchen in den Nischen erhellten Flurs sah er plötzlich die Gestalt seines Neffen hervortreten. Im ersten Moment schien es ihm, Tristan wäre größer geworden, breiter, fester in seiner Gestalt. Das Lächeln auf seinem Gesicht, die Freude des Wiedersehens, von der es zeugte, rührten so sehr an Markes Herz, dass er nicht anders konnte, als auf ihn zuzugehen und ihn in seine Arme zu schließen. »Was machst du hier? Was willst du?«, flüsterte er ihm dabei ins Ohr. »Willkommen seist du, willkommen wie sonst niemand, den ich kenne.«
Tristan sagte nichts darauf, erwiderte nur die Herzlichkeit der Begrüßung. Seinem Oheim so nah zu sein, ihn zu spüren, seine Stimme zu hören, machte ihn sprachlos. Er war da, wo er hingehörte, so fühlte er. Schon die Ankunft in Tintajol hatte in ihm viele glückliche Erinnerungen wachgerufen. Erst jetzt, als die beiden Männer einander gegenüberstanden und sich in die Augen blickten, verkündete Tristan voller Überzeugung: »Ich will dem hier ein Ende setzen.«
»Ein Ende setzen? Wem oder was?« Marke trat einen Schritt zurück, als er die Entschlossenheit in der Stimme seines Neffen hörte.
»Morolt.« Tristans Antwort war knapp und eindeutig.
»Das wirst du nicht!«, sagte Marke scharf. »Ich will nicht auch noch dich verlieren!«
Die Herausforderung ~205~ conditiones
Tristan kannte den Weg in den Königssaal. Sein Schritt war schnell, und er zögerte keinen Moment, die Tür so heftig aufzustoßen, dass die beiden Flügel krachend gegen die Wände stießen. Mit einem einzigen Blick erfasste er die Menge der herrschaftlichen Familien, die Wachsoldaten, die halbwüchsigen Kinder, die in einer Reihe standen, er sah, dass einige weinten, sah den Tisch und an dessen Ende Morolts Gestalt. Der geräuschvolle Auftritt brachte die Anwesenden plötzlich zum Schweigen, alle starrten ihn an, Morolt beugte sich vor. Da trat Marke hinter Tristan, gefolgt von dem Knappen Golsh und zwei milites.
»Tristan!«, sagte Marke leise und beschwörend. Noch immer wollte er ihn zurückhalten. Aber sein Neffe stellte sich bereits an das freie Ende des Tisches, blickte Morolt an und fragte mit fester Stimme: »Seid Ihr der Kinderräuber?«
Nun wurde es totenstill im Raum. Alle schauten auf Morolt, um zu sehen, wie der Ire diese Herausforderung annehmen würde.
Morolt blickte erst zur Seite, dann stand er langsam auf. Es schien, als würde er dabei wachsen. Er war, so kam es Tristan vor, noch größer als Morgan gewesen war, und er sah ihm ein wenig ähnlich. »Mein Name ist Morolt von Erui«, sagte der Mann mit tiefer Stimme und blickte auf Tristan wie auf einen Knappen, der vor ihm stand. »Und wer bist du?«
»Tristan, König von Parmenien, Neffe des Königs von Cornwall, und um es kurz zu machen: Ich fordere Euch auf, England auf der Stelle zu verlassen - ohne die Kinder, die Ihr zu Sklaven machen wollt! Wenn Euch das nicht genehm ist, werde ich gegen Euch kämpfen und Euch den Kopf abschlagen.« Tristans Stimme wurde mit jedem Wort ruhiger und hatte dadurch einen umso bedrohlicheren Klang. »Bedenkt«, fuhr er mit einem Mal in Eruisch fort, »dass Ihr dann niemandem mehr von Euren Heldentaten erzählen könnt.«
Einige wenige der Anwesenden mussten diese Worte verstanden haben, es entstand hier und da ein Aufstöhnen und sogar ein verhaltenes Lachen. Morolt hingegen schien sein Gegenüber zum ersten Mal ernst zu nehmen, zog die Augenbrauen zusammen und hatte eine Weile damit zu tun, aus dem Mund eines fremden und noch so jungen Mannes, der ihm augenscheinlich körperlich unterlegen war, derart dreiste und beleidigende Worte in seiner eigenen Sprache zu hören.
»Ihr wollt kämpfen?«, fragte er auf Eruisch zurück.
»Wir haben bereits damit begonnen.« Tristan sprach wieder wie ein Britannier.
Marke hatte sich neben ihn gestellt. Er spürte, dass Tristan nichts mehr
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