Tristan
jämmerlich allein gewesen wäre ohne Helens Begleitung? Sollte er damit beginnen? Und wie ging es weiter, jetzt, da er wieder am Hofe von Tintajol leben sollte?
Bevor er sich für einen Beginn seines Berichts entschließen konnte, geschah etwas, was ihn zutiefst beschämte. Courvenal betrat den Saal! Wie konnte er seinen Lehrer vergessen haben, weshalb hatte er bisher nicht nach ihm gefragt? Ohne auf Marke zu achten, lief er dem Mönch entgegen und warf sich ihm in die Arme.
Zunächst herrschte nichts als Freude über das Wiedersehen. Auch Marke und Courvenal befanden sich in einem Zustand, als hätten sie selbst nach langer Abwesenheit in die Heimat zurückgefunden. Doch es dauerte nur wenige Tage, nachdem die Wiedersehensfeste vorüber waren, dass von den Baronen dringliche Fragen aufgeworfen wurden. Marke hatte mittlerweile das vierzigste Lebensjahr überschritten und war noch immer nicht verehelicht. Er könnte sterben und sein Königreich zurücklassen ohne einen leiblichen Erben. Dann würde der gesamte Besitz auf Tristan übergehen. Doch wer war dieser Tristan? Keiner aus einem von ihren fürstlichen Geschlechtern, so viel stand für die Barone fest, gleichgültig, was er für das Land und seine Untertanen erreicht hatte. Einen, der melodisch sang, die Harfe zu spielen wusste und nur einige Mal Zweikämpfe gewonnen hatte, nie aber zu ritterlichen aventüren ausgezogen war, konnte man nicht als Herrscher eines Fürstentums einsetzen, auch wenn er selbst einem sehr entlegenen entstammte. Zudem war, in Cornwall zumindest, die Ehe Blancheflurs mit Riwalin von Marke nie anerkannt worden. Keiner der Barone hätte zwar je laut auszusprechen gewagt, Tristan sei ein Bastard. Aber sie alle dachten es. Und einem Bastard war nichts zu gönnen. Das wussten sie aus eigener Erfahrung, wenn sie Kinder gezeugt hatten, die ihnen nicht gehören sollten und deren Existenz totgeschwiegen wurde.
Baron Ferrow war der Wortführer der Widersacher. Er lebte auf Ferrow-Woight, einem Schloss nordöstlich von Tintajol, besaß mehrere ertragreiche Güter, und die Gewinne halfen dabei, dass auch Schloss Tintajol sein Auskommen hatte. Also glaubte Baron Ferrow, ein Mitspracherecht zu haben, insoweit es die Belange des Fürstentums Cornwall betraf. Er war ein Mann in den Sechzigern, der besonders viel Sorgfalt auf die Pflege seines Backenbartes verwendete, weshalb er »der Pruße« genannt wurde. In Tristan sah er den Vertreter einer jungen Generation, die sich unverdient am Erbe der Väter bereichein wollte, um für die eigene Gegenwart daraus Vorteile zu ziehen.
Ferrow, William F. Ferrow, Baron von Woight, setzte alles daran, die Ehe- und Kinderlosigkeit seines Vetters zu beenden. Auf welche Weise tat er das? Er führte Marke etliche junge Frauen aus seiner Verwandtschaft zu, wozu auch wohlgestaltete Mägde gehörten, die schlichtweg zur Verwandtschaft hinzugezählt wurden.
Marke reagierte darauf meist abweisend. Er war einsam, aber nicht dumm. All die Frauen, die ihm angeboten wurden oder sich ihm anboten, verglich er insgeheim mit seiner Schwester Blancheflur, von der er ein Bild in sich trug, mit dem er bisher keine der anderen demoiselles vergleichen konnte. Sie erstarrten als Bilder in ihm. Er begegnete ihnen, sah sie sich an, und schon verwandelten sie sich für ihn wie in einer Mär zu Statuen in einem Garten.
Doch da gab es noch Florine Wessely, eine bezaubernde junge Dame. Sie war Lord Wesselys Tochter, dessen Besitzungen im Südwesten lagen und der zu einem der wohlhabendsten Grafen Britanniens gehörte. Wessely machte seine Tochter mit dem König bekannt. Kaum aber stand Marke diesem wie aus Alabaster geschaffenen Wesen mit den blassgrauen, ebenso ehrlich wie kalt wirkenden Augen gegenüber, schob sich zwischen sie die Erinnerung an seine verstorbene Schwester, und es blieb bei seiner geflissentlichen Hochachtung und Bewunderung für die Schönheit dieser jungen Frau. Ohne es zu beabsichtigen, zeigte König Marke in solchen Momenten eine Reserviertheit, die von den Baronen ausgelegt wurde, als wären ihm alle, wen auch immer man ihm vorführte, nicht gut genug. - Und nun tauchte plötzlich dieser längst totgeglaubte Tristan wieder auf, und König Marke verhielt sich so, als ob jegliche Frage nach seiner Heirat dadurch belanglos geworden wäre.
Tristan waren die Sorgen der Barone, dass sich sein Oheim partout nicht wollte vermählen lassen, vertraut. Helen, die auf seinen Wunsch hin wieder zu seiner Dienerin bestellt
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