Tristan
darf von all dem nichts erfahren!« Tristan beschwor die Magd.
»Nichts, nichts!« Mit diesen Worten verschwand Helen wieder hinter den Türen, die gleich nach ihrem Eintritt geschlossen wurden.
Tristan tat daraufhin so, als führe er in aller Ruhe sein Pferd zu den Stallungen. Kaum war er aus dem Lichtschein der Fackeln heraus und im Schatten der niedrigen Gebäude, band er das Pferd an und rannte zum Hof hinter dem Versammlungssaal der Ritter. Dort gab es eine kleine Tür, durch die auch Morolt immer tief gebückt das Gebäude betreten und verlassen hatte. Die Tür hatte eine Besonderheit: Von außen konnte man sie nicht öffnen, es gab keinen Griff und keinen Riegel, sie war wie ein aus Brettern zusammengefügtes Tor ohne Sinn und Zweck. Jeder, der davorstand, schreckte zurück und fragte sich, warum es diese Tür überhaupt gab.
Tristan kannte den Mechanismus des Schlosses und hatte ihn untersucht, bevor er seinen Kampf mit Morolt antrat, weil er nicht wollte, dass der Ire wiederkäme, um sich zu rächen. Mit einem einfachen Ästchen, das er von einem Buschwerk abbrach und mit seinem Dolch anspitzte, fuhr er zwischen Tür und Mauerwerk und schob den Dorn, der die Tür im Verschluss hielt, zurück. Die Tür knarrte, als er sie öffnete. Tristan glitt in den dunklen Flur, schloss das Tor und tastete sich durch den Gang vorwärts bis zu einem Vorhang, den er halb zur Seite schob. In dem Raum, der vor ihm lag, war kein Licht, doch er wusste sofort, wo er sich befand: im Versammlungsraum der Ritter. Er spürte förmlich den großen runden Tisch, den Marke nach dem Vorbild der Schilderungen von König Arthurs Rittersaal hatte anfertigen lassen, er wusste, ohne sie sehen zu können, wo die klobigen Stühle standen, spürte wie ein Weissager, dass einige von ihnen in eine Ecke des Raumes geschoben worden waren, und ahnte zumindest die Richtung des Zugangs, in dem Isolde gleich auftauchen würde.
In diesem Moment blitzte zwischen einer Vorhangsspalte ein Lichtschein, er hörte Stimmen. Die Stimmen von Helen und Isolde. »Warum sollte ich ihn hier antreffen können?«, fragte Isolde. »Zu diesem Saal, hat mir König Marke gesagt, hat niemand Zutritt, außer er ist geladen.«
»Der Herr hat es mir aber so ins Ohr geflüstert!« Das war Helens Stimme, die versuchte, sich möglichst bedeckt zu halten.
»Seit wann kennst du ihn eigentlich?« Das war wieder Isolde.
In Tristan überschlug sich sein Herz. Es war so schön, ihre Stimme zu hören, selbst wenn sie voller Misstrauen war.
»Seitdem er hier aufgetaucht ist.«
»Aufgetaucht?«
»Er sagte immer, er käme aus dem Meer.«
»Aus dem Meer? - Ist das eine Falle?«
»Nein, Herrin, so bleibt doch, nur noch ein paar Schritte!«
Das Licht verschwand, kam wieder, verschwand erneut. Tristan war schon fast dabei, zu dem Vorhang zu eilen, hinter dem Isolde sich befinden musste. Aber noch war Helen anwesend. Und es durfte keine Zeugen geben. Da hörte er die Magd plötzlich sagen: »Ich muss jetzt gehen. Es ist ein geheimer Auftrag, eine Botschaft aus Erui von Eurer Mutter. Ich darf nicht zugegen sein, und ich will es auch nicht. Hier habt Ihr die Lampe. Ich denke, Ihr findet allein zurück. Es ist der Weg hier an den Truhen vorbei. Dann gelangt Ihr direkt auf den Flur zu Eurem Gemach.«
Daraufhin herrschte Schweigen. Schritte, die sich entfernten, waren zu hören, der Lichtschimmer in den Vorhangspalten verminderte sich und nahm zu, bis der Vorhang plötzlich geöffnet wurde und Isolde dastand. Das Licht in ihren Händen beschien nur sie und den unmittelbaren Raum um sie herum. Sie trug ein Gewand, das ihr bis zu den Füßen fiel. Es war aus einem Stoff, der wie Alabaster wirkte. Tristan fiel auf die Knie, als er diese Erscheinung sah.
»Ist da jemand?«, fragte Isolde flüsternd und schirmte mit der freien Hand den Lichtschein ab.
»Ja«, sagte Tristan irgendwo versteckt in der Dunkelheit. »Ich bin es. Ich musste dich sehen.«
Schweben ~246~ Fallen
Sie lagen die ganze noch verbleibende Nacht auf einer der gepolsterten Bänke in den Nischen des Rittersaals und liebten sich. Ihre Zärtlichkeiten waren schüchtern und tastend, fast keusch. Als ginge es darum, die Lippen des anderen nicht zu berühren und sie gleichwohl dauernd zu suchen, den Körper des Geliebten wie aus Versehen zu berühren, sich mit den Händen in den Haaren des anderen zu verfangen und sich dafür mit Küssen zu entschuldigen. Isolde war glücklich. Sie wollte nicht mehr. Sie hatte alles.
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