Tristan
König Marke ordnete an, die Wehrhaftigkeit der Burg zu überprüfen und zu verbessern. Alte Konstruktionspläne der Befestigungsmauern wurden aus den Archiven geholt, und die Ritter und Baumeister versammelten sich im Königssaal, um sie zu begutachten.
Unter diesen Rittern befand sich auch Tristan. Er äußerte sich nur verhalten zu den Schwachstellen der Anlage, sah sich aber alles genau an und entdeckte auf einer der Zeichnungen einen der geheimen Ausgänge aus der Burg, wie sie überall und zu jeder Zeit schon in die Planung der Festungen mit einbezogen, doch entweder nie benutzt oder wieder verschüttet worden waren.
Keiner der im Königssaal anwesenden Baumeister verschwendete einen Blick darauf. Allen ging es um Türme und Zinnen, Gräben und Tore. Sie interessierte das Äußere, nicht das Innere. Und Tristan unterstützte in dieser Hinsicht jede ihrer Ideen. Insgeheim aber jubelte er, denn er wusste nun von einem geheimen Gang für sich und Isolde, durch den sie sich unbemerkt außerhalb der Burg treffen könnten. Er fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt, und ein vertrautes Gefühl stieg in ihm auf. Während er damals aus der Umfriedung hinaus in die Freiheit wollte, ging es jetzt darum, den Fluchtweg dafür zu nutzen, für Isolde und sich einen verborgenen Ort zu suchen.
Sein Inneres war aufgewühlt, als er ihr davon erzählte, und sie seufzte vor Glück bei der Vorstellung, sorglos mit Tristan allein sein zu können. Sie hatten sich in einem der Esssäle getroffen und die beiden Mägde hinausgeschickt, um Brennholz für die Öfen zu besorgen.
»Wo ist er denn nun, dieser Gang?«, fragte Isolde voller Neugier.
»Das weiß ich noch nicht genau.«
»Ist er tief unter der Erde? Gibt es dort Ratten?«
»Auch das weiß ich nicht. - Isolde!«
»Und wo kommen wir dann heraus?«
»Isolde, Isôt!« Tristan zähmte ihre Ungeduld, indem er ihr den Mund mit einem Kuss verschloss. Doch dann waren Schritte zu hören, und gleich darauf betrat Marjodô den Saal. Beim Anblick Isoldes verbeugte er sich tief, während Tristan so tat, als hätte er ihr etwas vorgelesen. In der Hand hielt er ein aufgeschlagenes kleines Buch, das er stets bei sich trug und in dem die »Metamorphosen« des Ovid versammelt waren. Er klappte es zu, legte es auf den Tisch und begrüßte den Truchsess.
»Eine Lesestunde, Mylady?«, fragte Marjodô in freundlichem Ton, der frei schien von allen Hintergedanken, nahm das Buch vom Tisch auf, las laut »metamorphoseon libri« und fügte hinzu: »Ovid! - Das nenn ich mir ein gutes Zeichen, mein Freund«, wandte er sich an Tristan, »denn soeben habe ich erfahren, dass wir von nun an eine Kammer teilen werden! Was sagt Ihr dazu? Ist es nicht ein Glück und zugleich Markes großzügiger Wille, dass wir hinauskönnen aus dem verschnarchten Schlafsaal der Ritter! Wir werden in futurum so manche Nacht miteinander verbringen, und Ihr übersetzt mir diese libri der Verwandlungen, denn mein Latein, nun ja, es lässt zu wünschen übrig.«
Von der Nachricht, dass Marjodô und er ein Zimmer teilen würden, war Tristan überaus angetan. Der Truchsess hatte etwas Altersloses an sich, war nicht ungebildet, und Tristan hatte sich bisher immer gut mit ihm verstanden. Man flüsterte am Hofe, er sei ein Weiberheld, doch das hatte Tristan bislang nicht gestört. Die Vorstellung, nicht mehr mit zehn bis zwölf - zuweilen waren es bis zu dreißig gewesen! - Rittern und ihren Knappen in einem Raum schlafen zu müssen, sondern nur zu zweit zu sein, erheiterte ihn so sehr, dass er Marjodô versprach, ihm den ganzen Ovid zu übersetzen.
»Und wer erzählt mir die Legenden?«, meldete sich Isolde.
»Natürlich ich!«, sagten Marjodô und Tristan beinahe gleichzeitig und mussten lachen. Und wie gut war es, dass sich der Truchsess bald darauf verabschiedete, die Mägde noch nicht wieder zurück waren und Tristan und Isolde ein wenig Zeit blieb, sich hinter einem Vorhang zu verstecken und sich zu küssen, bis sich Frauenstimmen näherten im Streit darum, wer die schwerer wiegenden Holzscheite zu tragen habe.
Da stoben Isolde und Tristan auseinander, aber das nächste Treffen war schon vereinbart: noch an diesem Abend nach der Mahlzeit bei dem Stall, in dem Tristan und Helen zum ersten Mal aufeinandergetroffen waren.
Marjodô und Melôt ~ 253 ~ Der Ausweg
Elias Marjodô von Hensworth, arkadischer Abstammung, war ein angenehmer, wenn auch ein wenig selbstgefälliger Zeitgenosse. Er war eng befreundet
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