Tristan
mit Melôt, einem Kleinwüchsigen, der an Markes Hof den Narren gab und sonst nichts konnte, als seine Missbildung zu präsentieren, sich unanständig zu benehmen und den Frauen unter den Rock zu greifen. Die lachten darüber und freuten sich, denn weit hinauf kam er nicht mit seinen Ärmchen, aber immerhin hatte es einen Annäherungsversuch gegeben, den einige von ihnen schon lange vermissten. Gab es indes zwischen den Herrschaffen Streit deswegen, versuchte Marjodô, ihn zu schlichten, woraufhin Melôt um den Truchsess herumtänzelte, als gehöre er zu ihm wie ein Hündchen zu seinem Herrn.
Alle am Hof Markes kannten dieses Spiel, und alle akzeptierten es. Auch Tristan hatte diesem Treiben oft mit großem amusement zugeschaut. Auf seinen Reisen mit Courvenal durch die italienischen Provinzen hatte er jedoch auch Zwerge kennengelernt, die sich durch eine besondere Kunstfertigkeit im Gesang hoher Stimmlagen oder mit der Rezitation ganzer Bücher hervorgetan hatten. Melôt konnte nichts dergleichen vorweisen. Er war einfach nur ein Wicht, den man nicht sah, weil man über ihn hinwegschaute.
»Eine Ratte«, sagte Tristan zu Isolde an einem der Abende, als sie sich heimlich trafen, »eine Ratte mit glühenden Augen.«
»Hast du die nicht auch?«, fragte Isolde und küsste ihn. »Eine wunderbare kleine Ratte, die sich ständig an mich heranschleicht, an mir herumnagt und mich auffressen will?«
Es gab viele solcher Abende und Vereinigungen. Niemand wusste davon. Marke war häufig unterwegs zu seinen Baronen, und den »Oberaufseher«, wie Tristan ihn nannte, schien es nicht mehr zu geben: Courvenal war noch immer wie vom Erdboden verschwunden. Die Zelte hinter dem Kirschbaumgarten waren längst abgebaut, die Mönche, die er auf Tintajol nach Courvenalus fragte, wiesen ihn zu einem der beiden Scriptorien auf der Burg, oder sie zuckten nur mit den Schultern. Schließlich wandte er sich beunruhigt an Marke.
»Courvenal? Das stimmt! Jetzt, wo du es sagst, fällt mir ebenfalls auf, wie lange ich ihn nicht mehr gesehen habe. Vor einiger Zeit erwähnte einmal einer der Padres vom Heiligen Fels, Courvenal trage nun wieder weltliche Kleider, und erzählte, dass ihn das viele Gehämmer und Geklopfe wegen der Bauten auf der Burg ganz wirr im Kopf mache. Da antwortete ich nur, mir gehe es ganz ähnlich. Vielleicht ist er nach Londres geritten. Die Bibliothek dort soll die beste des ganzen Königreichs sein. Warum siehst du nicht dort einmal nach, Tristan? Und bei der Gelegenheit findest du vielleicht auch ein paar libri, die unseren Bestand erweitern könnten, etwas Schöngeistiges, Illustres, legende, die uns die immer länger werdenden Abende verkürzen könnten. Was meinst du?«
»Aber ich werde doch hier gebraucht!« Tristan war zutiefst erschrocken, die Vorstellung, von Isolde getrennt zu sein, war entsetzlich.
»Wozu denn?« Marke lachte. »Etwa zum Steineschleppen, Winkelanlegen, Erdeumgraben? Nein, nein mein Lieber. Reite nach Londres, hol Courvenal zurück und bring mir Bücher. Das ist ein königlicher Befehl und die Bitte deines Oheims.« Er klopfte seinem Neffen wohlwollend auf die Schulter.
Tristan war bleich geworden. Warum nur hatte er Marke nach Courvenal gefragt? Es konnte ihm doch nur recht sein, dass der Mönch nicht um ihn herum war, denn Courvenal hätte er nichts vormachen können, er hätte ihn sofort durchschaut und seine heimliche Liebe zu Isolde entdeckt. Was bin ich nur für ein Dummkopf, dachte Tristan.
Da fiel ihm in seiner Not der geheime Ausgang wieder ein. Wenn er diesen Tunnel fand, wenn Isolde durch ihn des Nachts die Burg verlassen könnte, wäre es möglich, dass sie sich jeden Tag für viele Stunden sähen. Und da er, Tristan, sich im Auftrag des Königs scheinbar in Londres aufhielte, würde niemand Verdacht schöpfen. Marjodô könnte gleichzeitig für eine lange Zeit, vielleicht sogar für einen ganzen Monat die Kemenate ganz allein bewohnen, was ihn sicher glücklich machte. Von nun an gab es für Tristan nur noch eins: Er musste den geheimen Ausstieg finden!
Die Baupläne, die im Augenblick von den Baumeistern nicht gebraucht wurden, lagen alle im großen Versammlungssaal. Dort waren an den Türen Wachen aufgestellt, niemand durfte ohne Aufsicht den Saal betreten. Man fürchtete getarnte Kundschafter, die die Anlagen Tintajols ausspähen und herausfinden könnten, an welchen Stellen die Burg verletzbar war, wo das Abwasser heraustrat, die Schächte waren, in denen Pech und Schwefel
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