Tristan
wann Isolde des Nachts zu ihm kommen sollte. Einige Lämpchen waren im Tunnel bereitgestellt, und Brangaene beschaffte einen Beutel, den sich Isolde über die Schulter hängen konnte, um Essen und Getränke mitzunehmen.
Tristan, kaum hatte er am nächsten Morgen das Haupttor der Burg hinter sich, galoppierte auf seinem Pferd den Weg entlang, der nach Londres führte, und bog, sobald er nicht mehr von den Wachleuten gesehen werden konnte, ein in den Wald, um schließlich über einen langen Umweg zu dem Verschlag zu gelangen. Dort lud er die Satteltaschen des Pferdes ab, die voll mit Büchern waren, die er heimlich aus der Bibliothek Tintajols entwendet hatte. Müde und glücklich setzte er sich auf eine Decke aus dichtem Stoff und wartete - auf Isolde.
Stoffe aus Byzanz ~254~ Die Sanduhr
Tristan wartete an diesem Abend vergebens. Die Königin wurde durch. Marke von ihren Plänen abgehalten. Ein Gesandter Roms war unangemeldet aus Paris angekommen, um sich der legitimen Ehe der Neuvermählten zu vergewissern. Zu Isoldes großer Freude hatte er eine Truhe mit Geschenken des fränkischen Königs mitgebracht, in der sich feinste Stoffe befanden, die aus Byzanz stammen sollten. Isolde hatte keine Vorstellung, wo dieses »Byzanz« lag, weshalb ihr der römische Gesandte, der sich mit Eminenz Carolus anreden ließ, einen langen Vortrag hielt über die Erfolge der Ritter, die im osmanischen Reich für das Heilige Kreuz Jesu kämpften. Isolde schwirrten die fremden Wörter im Kopf herum, von denen sie zwei besonders begeisterte: Datteln sollten die Früchte von Palmen sein, von deren Fleisch man tagelang leben konnte. »Vielleicht bringt Tristan uns ein Buch aus Londres über Datteln und Palmen mit«, sagte Isolde, wiederholte die fremden Wörter, unter denen sie sich nichts vorstellen konnte, und wünschte sich sehnlichst Tristan an ihrer Seite, der ihr gewiss all das Fremde erklärt hätte.
Durch die ausführlichen Schilderungen seiner Eminenz zog sich der Abend bis spät in die Nacht hinein, es wurde getafelt und dazu schwerer Wein gereicht. Während die Männer noch über »Weltangelegenheiten« reden mussten, war die junge Königin schon so müde, dass sie in ihre Kammer gebracht werden wollte. Helen, die sie begleitete, versicherte ihr, dass Marke sie gewiss in dieser Nacht nicht mehr besuchen würde, woraufhin Isolde die Magd mit der Anordnung entließ, sie am kommenden Morgen so lange ruhen zu lassen, wie die Sonne es erlaube.
Auf dem Flur stieß Helen, ein Öllämpchen haltend, auf Marjodô, der gerade auf dem Weg zu seiner Kemenate war. Er hielt einen Krug Wein in der Hand und in der anderen einen Becher.
»Noch so spät unterwegs?«, erlaubte sich daher Helen zu fragen und wollte schon zur Kammer gehen, in der sie sich umziehen konnte.
»Was heißt >so spät« Marjodô war stehen geblieben. »Bleibst du heute Nacht auf der Burg oder gehst du noch den langen Weg zu deiner Hütte? Was erwartet dich dort? Ein schnarchender Mann, drei oder vier quengelnde Kinder, ein Hund oder zwei?« Marjodô lachte so freundlich, als hätte er dies ehrlich gemeint.
»Ein Mann, ja. Ob er schon schnarcht, weiß ich nicht. An Kindern sind es fünf, der Jüngste ist ein Jahr alt, ein knappes vielleicht, so genau weiß ich das nicht, ich zähle nicht die Tage, und Hunde sind es zwei, da habt Ihr recht.«
»Und im Morgengrauen musst du wieder aufstehen?«
»Jeden Tag, Herr.«
»Wenn du jetzt aber den langen Weg nach Hause gehst, hast du doch nur ein paar Sanduhr stunden Schlaf.«
»Die messe ich nicht, wir haben keine Sanduhr.«
»Ich aber. Würdest du sie sehen wollen?«
Helen war klug genug zu erraten, was diese Frage bedeutete. Sie wusste ja auch, dass der Herr im Moment allein in seiner Kammer wohnte, da Sir Tristan so bald aus Londres nicht wiederkommen würde. Marjodô wollte sie zu sich einladen.
»Ihr habt aber nur einen Becher«, sagte sie leise. »Der hat Platz genug für zwei Münder.«
»Zwei?«, sie stutzte, als müsste sie nachzählen. »Und das mit der Sanduhr stimmt?«
»Ich schwöre es, auch wenn ich es gerade nicht richtig tun kann, weil meine beiden Hände noch mit diesen Nebensächlichkeiten beschäftigt sind.« Er hob den Krug und den Becher hoch. »Doch das Wichtigste ist in meiner Tasche: der Schlüssel. Komm mit! Hab dich nicht so, du brauchst keine Angst zu haben, ich tue dir nichts. Du kannst sogar in meiner Kammer schlafen. Sir Tristan ist auf Reisen, sein Bett steht dir zur Verfügung.
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