Tristan
Komm, dann kannst du länger schlafen. Morgen gibt es keinen Jagdausritt, also wird dein Mann sich um die Kinder kümmern. Nun komm!«
Sie ging mit. Sie hatte Marjodô den Krug abgenommen, er trippelte vor ihr her, denn Marjodô war zwar ein stattlicher Mann, aber nicht sehr groß gewachsen und mit wenig Haaren auf dem Kopf. Wie sie durch die Flure liefen, er mit seinen Lederschuhen, sie mit nackten Füßen, hatte sie das Gefühl, hinter sich noch die leisen Schritte eines Dritten zu hören. Doch sie konnte sich nicht umdrehen mit ihrem Lämpchen, sie musste dem Truchsess den Weg leuchten.
Sie kamen bei seiner und Tristans Kammer an. Es war ein schön eingerichteter, großer Raum, zu dem ihr der Truchsess die Tür öffnete. Und es war ihr noch angenehmer, als er sie wieder hinter sich schloss.
»Da ist das Ding!«, sagte Marjodô und seine hohe Stirn glänzte.
Sie setzten sich beide jeweils auf die Kante eines der beiden Lager, er sich auf sein Bett, sie sich auf das von Tristan. Zwischen ihnen befand sich ein kleiner Tisch, auf dem ein Apparat stand, von dem Helen zwar schon gehört, den sie jedoch nie zuvor gesehen hatte. Zwei übereinandergestülpte Glastropfen wurden an ihren schmalen Enden in der Mitte von einem Holzgestell gehalten. Dort vereinten sich die Tropfen in einem dünnen Schlund, durch dessen Engpass der Sand stetig von oben nach unten rann.
»Ein Fünfstundenglas«, sagte Marjodô.
Helen hörte nicht auf seine Worte. Sie sah im Schimmer des Lämpchens den Sand rinnen, als wäre er trockenes Wasser, und konnte den Blick nicht davon wenden. Marjodô goss währenddessen Wein in den Becher und reichte ihn Helen. Sie trank, schluckte, musste ein wenig husten und hielt sich gleich die Kehle zu, weil sie Angst hatte, ihr Husten könnte den Sand am Fließen hindern.
»Wie wunderbar!«, flüsterte sie und merkte nicht, dass der Truchsess sich neben sie gesetzt hatte. Er legte seinen Arm um ihre Schulter, starrte wie sie in das Spiel aus rinnendem Sand und Licht, das sich darin mischte.
»Das ist unsere Zeit«, sagte er nach einer Weile und reichte ihr wieder den Becher. Da ein langer Tag hinter ihr lag, sie den Wein nicht gewohnt war und der rinnende Sand, den sie ständig beobachtete, ihre Blicke zu bannen schien, sank sie bald an Marjodôs Schulter, und es fielen ihr schließlich die Augen zu.
Marjodô legte sie auf Tristans Bett, da schlief sie schon. Er hätte sich jetzt neben sie legen können, aber das wollte er nicht, denn er ahnte, dass es vor der Tür jemanden gab, der darauf achtete, was er tat. Tristan konnte es nicht sein. Der war fortgeritten, die Wachen am Tor hatten es ihm bestätigt.
Marjodô schlich sich zur Tür und riss sie mit einem Ruck auf. Da stürzte Melôt, der Zwerg, der wohl eines seiner abstehenden Ohren dagegengedrückt hatte, in den Raum. Marjodô schubste ihn mit den Füßen nach draußen und schloss die Tür hinter sich.
»Was machst du hier?«, fuhr er ihn an.
Geschichten ~ 255 ~ Geschichte
Melôt und Marjodô soll ein merkwürdiges, unglaubwürdiges Schicksal verbunden haben, das sich der Zwerg wohl ausdachte, um sich am Hofe eine Geschichte anzudichten, die ihn zu etwas Besonderem machte. Wer sie zuvor noch nicht gehört hatte, dem gab er als Allererstes zu verstehen, der Truchsess von Tintajol und er seien Brüder: Sie würden sich zwar dieselbe Mutter teilen, kennten aber beide nicht ihre wahren Väter. Er, Melôt, sei der Jüngere der beiden gewesen, ihre Mutter, bettelarm, in einer Hüttensiedlung im südlichen Arkadien lebend, hütete Ziegen und sei zweimal schwanger geworden von vorbeiziehenden Reitern, die per Schiff auf den Peloponnes gekommen waren, sich dort an der Ostküste eine Zeit lang aufhielten und dann auf ihren Booten wieder verschwanden, um das Heilige Land von den Ungläubigen zu befreien.
Marjodô hingegen konnte eine Urkunde vorweisen, derzufolge er aus einer sizilianischen Familie stammte. Die Pergamentrolle war zwar besiegelt und offensichtlich in lateinischer Schrift verfasst, aber so schwer lesbar, dass man nur mühsam ein paar Namen entziffern konnte. Einer davon war »Marod«, ein anderer »Merl«, und ein dritter konnte »lince« oder auch »leone« lauten. Mit dem Peloponnes jedoch oder gar mit einer Ziegenhirtin als Mutter wollte Marjodô nichts zu schaffen haben. Im Gegensatz zu dem Zwerg war er allerdings nicht besonders redebegabt, und je mehr er dessen phantasia bestritt, desto ungehemmter blühte sie bei Melôt. Da
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